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Foto aus dem Jahr 2008: Die Gründer von Invisible Children, Bobby Bailey, Laren Poole und Jason Russell, posieren vor Mitgliedern der Sudan People's Liberation Army (SPLA).

Foto: AP/Glenna Gordon

Das Viralvideo "Kony 2012" hat sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien verbreitet. Bereits 100 Millionen Menschen haben den 30-minütigen Hilfeaufruf der amerikanischen Non-Profit-Organisation Invisible Children angesehen und sich von den Kindersoldaten des ugandischen Rebellenführers Joseph Kony überzeugt. Es sei an der Zeit, aktiv zu werden und Konys Verhaftung herbeizuführen oder sie zumindest zu fordern, so die Aussage. Das von einem "Guardian"-Filmkritiker als aktivistisch und polemisch "einfach brillant" bezeichnete Werk und dessen Kernaussage "Stop Kony" fanden in kürzester Zeit hunderttausende lautstarke Unterstützer. Auch DER STANDARD-Kolumnist Hans Rauscher konnte der Initiative viel Positives abgewinnen. Über Twitter und Facebook wurden Medien dazu angehalten, über die Missstände zu berichten. Mit einer solchen Beharrlichkeit, dass selbst der ansonsten sehr gefasste "ZiB 2"-Moderator Armin Wolf "laut" wurde: "Sorry, aber der Nächste, der mir das Kony-Video schickt, wird geblockt. Ich habe es schon! Ein paar Dutzend Mal."

Schwere Kritik an Filmemachern

Drei Wochen nach der Erstveröffentlichung scheint das Feuer, wenn überhaupt, nur noch zu lodern. Es dauerte nicht lange, bis kritische Stimmen die spektakulär aufbereiteten Inhalte der Filmemacher in Frage stellten. Joshua Keating vom Foreign Policy Blog fasste die Unmutsäußerungen ugandischer Journalisten zusammen, wonach Invisible Children nicht die Probleme der Zeit ins Visier nehme. "Es wäre toll, Kony loszuwerden. Er und seine Streitkräfte haben über 20 Jahre eine Spur der Entführungen und der Massenmorde hinter sich gelassen", so Keating. "Doch Kony ist nicht in Uganda und ist es seit sechs Jahren nicht mehr gewesen." Die Schergen von Konys Lord's Resistance Army (LRA) wurden 2006 militärisch aus Uganda vertrieben und treiben seither schwer dezimiert in entlegenen Gebieten des Kongo, des Südsudan und Zentralafrikas ihr Unwesen. Hier werde auch Kony vermutet.

(Nach Kony-Video: Kritische Stimmen auch auf Youtube)

"Die Kampagne eine Fehlinterpretation zu nennen, ist ein Understatement"

Ein weiterer zentraler Punkt des Videos behandelt die bereits in Uganda stationierten US-Berater, die vergangenen Oktober zur Auffindung Konys hingeschickt wurden. Demnach solle durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Problematik sichergestellt werden, dass US-Präsident Barack Obama die 100 Mann nicht wieder abzieht. Doch zum einen gebe es derzeit gar keine Anzeichen, die auf einen frühzeitigen Abzug hinweisen würden. Und zum anderen schreibt Mark Kersten, dass die ungezielte Mobilisierung an sich schon problematisch sei. Damit würde von westlicher Seite in letzter Konsequenz zum militärischen Eingriff aufgerufen und nicht zuletzt an den 2012 tatsächlich vorherrschenden Missständen vorbeigeschossen, warnt der ugandische Journalist Angelo Izam.

"Die Kampagne eine Fehlinterpretation zu nennen ist ein Understatement. Während sie die Aufmerksamkeit auf das Faktum richtet, dass Kony als 2005 vom Internationalen Gerichtshof verurteilter Kriegsverbrecher noch immer auf freiem Fuß ist, werden im Video Verbrechen aus einer längst vergangenen Ära porträtiert." Währenddessen würden viele der damals geflohenen Kinder heute als Jugendliche in unmenschlichen Verhältnissen nach wie vor auf den Straßen Nordugandas leben. "Gulu hat das größte Aufkommen an Kinderprostition in Uganda und eine der höchsten HIV- und Hepatitis-Raten des Landes", sagt Izam und zeigt auf, an welchen Stellen es wirklich internationaler Unterstützung bedarf. Heute seien die "unsichtbaren Kinder" jene, die an den Folgen der einstigen Verbrechen leiden. "Über 4.000 Kinder sind Opfer katastrophaler Lebensumstände."

Fragwürdige Finanzierung

Die Kampagne von Invisible Children wirft zudem wiederholt ein schlechtes Licht auf das Geschäftsgebaren der Organisation. Dem Aufruf nach sollten Unterstützer vier Aktionen setzen: das Video teilen, die Petition unterschreiben, das "Kony 2012"-Armband und das Action-Kit für 30 US-Dollar bestellen und sich zum Spenden eintragen. Wie John Vidal vom "Guardian" aufschlüsselt, ist es allerdings fraglich, ob die finanzielle Unterstützung von Spendern auch dort ankommt, wo Hilfe benötigt wird. "Hinter der glatten Webseite und den berührenden Worten findet sich eine kaltschnäuzige Geldmacherei, angeführt von US-Filmemachern, Buchhaltern, Kommunikationsexperten und Verkäufern", schließt Vidal. Von den 8,8 Millionen Dollar Umsatz im Jahr 2011 (zwei Drittel durch Spenden) seien allein 25 Prozent für Reisen und Filmproduktion aufgewendet worden. Lediglich 30 Prozent kamen tatsächlich Projekten zugute. Der größte Teil wurde in den USA ausgegeben. 1,7 Millionen Dollar gingen an die Angestellten.

Vorführung abgesetzt

Nach den wütenden Protesten einheimischer Journalisten wurde so auch die Vorführung des Videos im Norden Ugandas abgesetzt, berichtet die französische Nachrichtenagentur AFP. Die ugandische Nicht-Regierungsorganisation Ayinet, die das halbstündige Video hatte zeigen wollen, teilte am Donnerstag mit, sie habe aufgrund der wütenden Reaktionen der Zuschauer alle weiteren Vorführungen abgesetzt. Bei einer Vorführung am Dienstag in der Ortschaft Lira hätten die Zuschauer, unter ihnen zahlreiche Opfer von Konys LRA, "extrem stark" und mit "großer Wut" auf den Film reagiert, sagte der Ayinet-Direktor Victor Ochen. Einige hätten Steine geworfen, woraufhin die Vorführung abgebrochen worden sei. 

Wie Ochen erklärte, ist die Sicht des Films auf den Konflikt im Norden Ugandas nach Ansicht der Zuschauer überholt und undifferenziert. "Die Leute fragten, warum sie weiße Kinder in Amerika zeigten und nicht die Wahrheit über die Situation der Bewohner der Region sagten", sagte Ochen. Da habe seine Organisation begriffen, dass die Reaktionen in der ganzen Gegend die gleichen sein würden.

Trittbrett Internet

"Kony 2012" veranschaulicht abseits zweifelhafter Spendenaktionen vor allem auch eines: Die unendlichen Manipulationsmöglichkeiten, die das Internet erfahrenen Social-Media-Experten bieten. Vielleicht erfüllt Invisible Children auf diese Weise ungewollt einen ganz anderen guten Zweck. Nämlich, dass neben jedem Like-Button auch ein Fragezeichen stehen sollte. (Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 16.3.2012)