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"Wenn Eltern bemerken: Mein Kind zieht sich zurück, ich habe keinen Zugang mehr zum ihm, es bricht seine Kontakte ab, nimmt in einem höheren Ausmaß an Gewicht ab, es gibt Hinweise auf gefährliches Experimentieren mit Alkohol und anderen Substanzen, dann gilt es, externe Hilfe heranzuziehen", rät Werner Leixnering.

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"Sie waren auch einmal jung, haben auch einmal pubertiert: Das muss man Eltern ins Stammbuch schreiben, wenn es um die Krisen in der Entwicklung geht."

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Der Weg zum Erwachsenwerden ist von massiven Veränderungen geprägt und alles andere als einfach. Werner Leixnering, Leiter der Abteilung für Jugendpsychiatrie an der Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg in Linz, spricht über die Pubertät als "normale Krise", über die Grenze zur Pathologie und über Möglichkeiten, wie Eltern am besten mit ihren pubertierenden Kindern umgehen können.

derStandard.at: Was ist eine Krise?

Werner Leixnering: Mit dem Beginn der körperlichen Veränderungen werden hohe Entwicklungsaufgaben an junge Menschen gestellt: die Auseinandersetzung mit körperlichen und sozialen Veränderungen, mit den eigenen Emotionen, mit mehr Eigenverantwortung, mit Leistungsanforderungen im Hinblick auf die Ausbildung. Dazu kommen die Ablösung von der Herkunftsfamilie und nicht zuletzt die Entwicklung intimer Beziehungen.

Dass es da Momente geben kann, in denen man überrannt und überfordert wird, liegt in der Natur der Sache. Wenn ich also den Krisenbegriff verwende, dann im Sinne einer normalen Entwicklungskrise. Es gibt Kollegen, die den Begriff Krise überhaupt nicht mehr verwenden. Sie sagen: Das sind die Situationen, mit denen man im Lauf dieser Entwicklung konfrontiert wird. Hier sind wir weit weg von jeglicher Pathologie.

derStandard.at: Ist der Leidensdruck der Jugendlichen nicht trotzdem oft zu groß, um damit alleine klarzukommen?

Leixnering: Wenn man auch weit weg von Pathologie ist, bedeutet das durchaus, dass junge Menschen sehr unglücklich sein können. Oder dass Eltern erzählen: Meine Tochter oder mein Sohn ist plötzlich ganz anders. Darauf gibt's nur die "No na"-Antwort: Das ist deshalb so, weil sie oder er sich gerade verändert. Jeder junge Mensch ist eine in Entstehung begriffene Persönlichkeit, und unterschiedliche Persönlichkeiten gehen mit diesen Aufgaben unterschiedlich um. Der eine wird sich leichter, der andere schwerer tun.

derStandard.at: Wie kann sich ein geglückter Umgang mit pubertierenden Jugendlichen gestalten?

Leixnering: Indem sich Erziehungsberechtigte um die jungen Menschen kümmern und auf sie eingehen - aber nicht zu viel. Es geht darum, erzieherische Maßnahmen zu setzen, aber nicht zu überfordern, bildlich ausgedrückt, ein "Auffangnetz" zu spannen. Natürlich muss man Jugendliche mehr alleine lassen und ihnen Eigenständigkeit gewähren, man darf sie aber nicht in die Tiefe fallen lassen. Man muss sie trösten, wenn eine erste Liebe schiefgegangen ist, und ihnen Auszeiten erlauben. Notwendigen Halt geben, aber auch erforderliche Freiheiten lassen. Das alles hat mit Therapie noch nichts zu tun.

derStandard.at: Wann raten Sie zu einer Therapie?

Leixnering: Von Behandlungserfordernis würde ich erst dann sprechen, wenn mit all den oben genannten Mitteln nicht das Auslangen gefunden werden kann, das heißt, wenn junge Menschen zum Beispiel in depressive Verstimmungen fallen, die nicht mehr aufzuhellen sind. Wenn sie massive Leistungseinbrüche haben, an Schlafstörungen leiden oder Ängste auftauchen.

Wenn solche Symptome in Zusammenhang mit einem oder mehreren bestimmten Ereignissen auftreten, dann handelt es sich um eine sogenannte Anpassungsstörung oder eventuell auch um Folgeerscheinungen einer seelischen Traumatisierung, und da bedarf es einer psychotherapeutischen und mitunter auch medikamentösen Unterstützung und/oder Therapie.

derStandard.at: Das bedeutet aber trotzdem noch keine psychische Erkrankung?

Leixnering: Es kommt vor, dass junge Menschen in so einer Phase eine psychische Störung entwickeln, für die sie eine Disposition haben, zum Beispiel eine depressive Episode oder - sehr selten - eine psychotische Episode, oder sich aber eine Trauma-Folgeerkrankung entwickelt.

Bei manchen Jugendlichen wird auch deutlich, dass sie sich in ihrem Verhalten und ihrer Emotionalität schon früh von der Norm abweichend entwickeln. Das kann durch Traumata ausgelöst sein, die durch einen ungeeigneten Erziehungsstil, durch Missbrauch etc. entstanden sind. Im Rahmen der Pubertät dekompensieren dann psychische Funktionen, und Krankheitsanzeichen wie Ängste oder Schlafstörungen treten auf. Hier ist der Übergang zur Pathologie. Selbstverletzungen, schädlicher Substanzgebrauch oder Essstörungen werden zum Thema. Es kann zu suizidalen Vorstellungen bis hin zu suizidalen Handlungen kommen.

derStandard.at: Für Eltern ist die Grenze zwischen Krise und Pathologie vermutlich nicht leicht zu erkennen?

Leixnering: Es gibt ein paar ganz offensichtliche Signale. Wenn Eltern bemerken: Mein Kind zieht sich zurück, ich habe keinen Zugang mehr zu ihm, es bricht seine Kontakte ab, nimmt in einem höheren Ausmaß an Gewicht ab, es gibt Hinweise auf gefährliches Experimentieren mit Alkohol und anderen Substanzen, dann gilt es, externe Hilfe heranzuziehen. Wobei ich betonen muss: Wenn die Tochter oder der Sohn zum ersten Mal betrunken heimkommt, ist das noch kein Zeichen für eine Pathologie. Ebenso wenig soll es aber verharmlost werden.

derStandard.at: Wie können Eltern ihren Kindern in der Krise helfen?

Leixnering: Wenn eine Krisensituation auftritt, empfehle ich den Eltern, zuerst einmal innezuhalten, Atem zu holen und nicht sofort in die Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu fahren. Es gilt, ganz nüchtern hinzuschauen, sich als Erwachsener ernsthaft mit dem Jugendlichen auseinanderzusetzen. Eine Ambulanz sollte nur dann aufgesucht werden, wenn es überhaupt nicht mehr gelingt, Kontakt zum eigenen Kind herzustellen. Nachdem junge Leute heute relativ mündig sind, soll man allerdings auch niemanden zurückhalten, der sagt: Ich möchte jetzt in die Ambulanz.

derStandard.at: Wie geht eine Beratung vor sich?

Leixnering: Kinder- und Jugendpsychiater und -therapeuten sind nicht nur für die Kinder da, sondern ebenso für die Eltern. In einem ersten Schritt ist es oft sinnvoll, wenn sich nur die Eltern beraten lassen, denn diese sind vielleicht schon so verkrampft, dass es ihnen nicht mehr gelingt, Zugang zu ihrem Kind zu finden. Sie erhalten Reflexionshilfen, die im besten Fall zu einem Perspektivenwechsel führen können, und Tipps, was sie im Augenblick tun können.

Zunächst einmal sage ich den Eltern im Beratungsgespräch: Bitte denken Sie daran, Sie waren auch einmal jung, haben auch einmal pubertiert. Das muss man Eltern ins Stammbuch schreiben, wenn es um die Krisen in der Entwicklung geht. Manche erschrecken und meinen: Das war fürchterlich ... Das heißt, dass sie nicht ganz objektiv mit der Entwicklung ihrer Kinder umgehen können. Aber solange das mit Gesprächen, mit einem Maß an Toleranz, mit einem Weiterbestehen des Alltagslebens einhergeht, ist das in Ordnung.

derStandard.at: Das setzt interessierte Eltern voraus. Was, wenn diese nicht vorhanden sind?

Leixnering: Dann gibt es die Möglichkeit, dass Kinder und Jugendliche selbst Hilfe holen.

derStandard.at: An welche Institutionen kann man sich wenden?

Leixnering: Es gibt leider bis jetzt so gut wie keine kassenfinanzierten Niederlassungen von Kinder- und Jugendpsychiatern. Solche wären aber dringend notwendig. Zur Zeit variieren die zuständigen Institutionen je nach Bundesland: Es gibt Beratungsstellen der Jugendämter, Schulpsychologen und -berater, Kriseninterventionszentren, Familienberatungsstellen oder Kinderschutzzentren, die allerdings vor allem für Kinder und Jugendliche gedacht sind, wo Missbrauchsverdacht besteht.

Es gibt in der Regel Ambulanzen an Krankenhäusern mit einer Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die aber sehr überlaufen sind, so dass - mit Ausnahme von akuten psychischen Erkrankungen mit Verdacht auf Selbst- und Fremdgefährdung - Wartezeiten unvermeidbar sind.

derStandard.at: Wollen sich Pubertierende in Krisen überhaupt helfen lassen?

Leixnering: Grundsätzlich ja, aber oft nicht so mit offenen Armen, wie man sich das wünschen würde. Das Wesentliche ist, den Jugendlichen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Ihnen nicht zu sagen: Horch einmal, du machst das und das und dann ist das wieder in Ordnung ... Wir müssen Jugendliche ermutigen und ihnen Zeit geben.

Wenn eine stationäre Therapie angebracht ist, sie damit aber nicht gleich einverstanden sind, dürfen wir nicht sagen: Okay, dann brauchst du nicht mehr herzukommen. Wir müssen Jugendliche selbst ihren Weg finden lassen. Wir dürfen die Tür nicht hinter ihnen zumachen. Das gilt für einfachere Krisen ebenso wie für schwerere Probleme.

derStandard.at: Was ist der therapeutische Ansatz der Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Leixnering: Man kann junge Menschen nur aus ihrem Lebensumfeld heraus verstehen. Deshalb steht im zentralen Fokus der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Auseinandersetzung mit der Entwicklung. Die Entwicklungspsychologie ist ein wichtiger Grundlagenbereich. Für unsere gesamte Arbeit gilt: Wir müssen therapeutisch immer das Umfeld der ersten und zweiten Ordnung einbeziehen: auf der einen Seite das familiäre Umfeld, auf der anderen Seite Schule, Arbeit und Freizeit.

Oft ist eine Vielfalt von Angeboten nötig: sozialpädagogische Maßnahmen als Unterstützung für junge Menschen, sich in der Gesellschaft wieder besser zurechtzufinden, sowie psychotherapeutische Angebote, die das soziale Umfeld der Jugendlichen mit einbeziehen. Dann gibt es noch jenen medizinischen Teilbereich, in dem man sich auf die Verabreichung von Medikamenten konzentriert. Aber das ist nur ein kleiner Teil der Angebote für Kinder und Jugendliche.

derStandard.at: Werden Kindern und Jugendlichen immer mehr Psychopharmaka verabreicht?

Leixnering: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie beschränkt sich nicht auf die Verabreichung von Psychopharmaka. Wir werden heute oft so hingestellt, dass wir Kindern und Jugendlichen Immer mehr Psychopharmaka verschreiben. Hier handelt es sich um eine verzerrte Wahrnehmung und fehlerhafte Interpretation von Fakten, die nicht eins zu eins zu übernehmen ist. Dass der Anteil der Medikation steigt, hängt vor allem damit zusammen, dass immer mehr Kinder und Jugendliche professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Hier gilt es, keine simplen Rückschlüsse zu ziehen.

derStandard.at: Werden Jugendliche in Krisen von Eltern, Lehrern und generell Erwachsenen ernst genommen?

Leixnering: Ich denke, dass Kinder und Jugendliche heute sehr ernst genommen werden, weil man sich intensiv mit den Kinder- und Jugendrechten auseinandersetzt. Die Einstellung der Eltern zu ihren Kindern hat sich geändert, was sich wiederum auf die Haltung der Gesamtbevölkerung auswirkt. Früher war das anders, Aussagen wie "Der Fratz soll still sein" sind heute seltener zu hören. Häufig wird jedoch über Hilflosigkeit im Umgang mit jungen Menschen geklagt.

derStandard.at: Unterliegen Krisen und psychische Erkrankungen Ihrer Beobachtung nach dem Zeitgeist?

Leixnering: Durchaus. Selbstverletzende Verhaltensweisen waren vor 20 Jahren praktisch kein Thema. Essstörungen hat es zum Beispiel in der Nachkriegszeit so gut wie keine gegeben. Ein Zeitgeistphänomen ist auch die lange Zeitspanne, die heute im Internet verbracht wird - etwa mit vernetzten Computerspielen.

Nicht nur Substanzen werden schädlich gebraucht, sondern auch Computer und Internet. Alles, was den Cyberbereich betrifft, ist ein starkes und zugleich relativ neues Thema in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit dem sich einzelne Kollegen verstärkt auseinandersetzen. In Zukunft wird man da eigene Beratungsstellen aufbauen müssen.

derStandard.at: Das bedeutet, die Kinder- und Jugendpsychiatrie muss sich immer auf neue Phänomene einstellen?

Leixnering: Das Jugendalter ist charakterisiert durch eine große Offenheit gegenüber allem Neuen. Es ist ein Alter der hohen Neugierde. Sensation Seeking ist sehr typisch für Jugendliche. Wenn das zu stark ausgeprägt ist, kann es zu einem Problem werden. Jugendliche heute sind besonders gefordert, aus vielen Angeboten auszuwählen und wieder zurückzustecken. Impulskontrolle wird eine immer wichtigere Herausforderung. Damit haben viele Jugendliche ein Problem.

derStandard.at: Nicht nur Jugendliche ...

Leixnering: Natürlich. Wenn Sie sich etwa mit dem Borderline-Syndrom beschäftigen, erkennen Sie genau diese Problematik auch bei Erwachsenen: die eigenen Grenzen und die Grenzen eines intakten Soziallebens festzustecken. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 15.3.2012)