Hafenarbeiter in turbulenten Zeiten: Jean-Pierre Darroussin (re.) und Gérard Meylan in "Schnee am Kilimandscharo".

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Robert Guédiguian, 58, Sohn eines Armeniers und einer Deutschen, ist Regisseur und Autor. Neben seinen Marseille-Filmen drehte er den Mitterand-Film "Letzte Tage im Élysée" oder das Résistance-Drama "L' Armée du crime".

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Dominik Kamalzadeh sprach mit dem Regisseur über linke Ideale, alte Filme und triste Arbeitswelten.

Wien/Paris - Robert Guédiguian kehrt mit seinen Filmen alle fünf, sechs Jahre in seine Heimatstadt Marseille zurück, in der sein Vater schon als Hafenarbeiter tätig war. Weil der prononciert linke Regisseur dabei auch stets auf das annähernd selbe Ensemble zurückgreift (darunter Ariane Ascaride und Jean-Pierre Darroussin), eignet dieser Filmserie etwas äußerst Selbstreflexives an: Man kann die Figuren, ihre Lebensentwürfe und damit auch das Arbeitermilieu im Wandel der bewegten Zeit mitverfolgen.

"Der Schnee am Kilimandscharo" (benannt nach dem Schlager von Pascal Danel) führt nun im charakteristisch entspannten, warmherzigen Tonfall Guédiguians in die Lebenswelt eines reiferen Paares. Michel (Darroussin) geht nicht ganz freiwillig in die Frühpension. Als Abschiedsgeschenk erhalten seine Frau Marie-Claire (Ascaride) und er eine Afrika-Reise, die sie jedoch nicht antreten können: Sie werden mit Gewalt auf die Bedürfnisse einer jüngeren Generation gestoßen. Was wiederum ein Nachdenken über die eigenen Utopien veranlasst.

Standard: "Der Schnee am Kilimandscharo" ist ein Film der Selbstüberprüfung - es gibt eine schöne Szene auf dem Balkon, in der Michel seine Frau fragt: "Wie würden wir uns als ältere Menschen sehen, wenn wir wieder jung wären?"

Guédiguian: Stimmt, das ist ein wesentlicher Satz. Es handelt sich um eine Art intellektuelle Hygiene, die eigentlich jeder praktizieren sollte: Was denke ich über mich als Erwachsenen, wenn ich der junge Mann von damals wäre? Ein wichtiger Grundsatz, um sich selbst treu zu bleiben. Natürlich entwickelt man sich weiter, doch man sollte seine Überzeugungen und die Welt, aus der man kommt, nicht vergessen. Wenn ich mit diesem Film nach Marseille zurückkehre, dann dient das auch dem Zweck zu überprüfen, was gleich geblieben ist und was sich verändert hat. Ich stelle mir die Frage, wie sich das "cinéma populaire" entwickelt hat, das ich realisieren möchte. Und wie ich als junger Zuschauer meine heutigen Filme sehen würde.

Standard: Sie schauen sich also Ihre älteren Filme an, um auf eine neue Idee zu kommen?

Guédiguian: Nein, das mache ich nicht - ich schaue mir immer wieder jene an, die ich schon geliebt habe, als ich 18 war. Wenn ich keine Lust mehr habe, neue Filme zu machen, und gerne den Beruf wechseln würde, dann helfen mir die alten Filme von John Ford, Pasolini, Fassbinder, Bergman, Fellini - da sehe ich, dass ich noch viel besser werden muss.

Standard: Welche zum Beispiel?

Guédiguian: Ozus "Reise nach Tokio", Pasolinis "Matthäus-Evangelium" und "Mamma Roma", "My Darling Clementine" - den ganzen John Ford eigentlich. Vieles von Fassbinder, "Faustrecht der Freiheit", "Die Ehe der Maria Braun", Bergmans "An die Freude ..."

Standard: Wie in "Reise nach Tokio" geht es auch bei Ihnen um die Konfrontation zweier Generationen, um den Verlust von Idealen. Wo sehen Sie den Unterschied?

Guédiguian: Meine Generation hatte zwei Vorteile: Sie hatte eine glaubwürdige Alternative zu ihren ursprünglichen Lebensbedingungen; und sie hatte Arbeit, man konnte sich einen Lebensunterhalt verdienen, etwas aufbauen, Familien gründen, Kinder haben. 30 Jahre später hat der junge Mann in "Der Schnee am Kilimandscharo", auf den das Paar stößt, keine Möglichkeit mehr, sich zu integrieren. Es gibt nur kurzfristige Jobs, für eine Familie fehlen ihm die Mittel. Er lebt unter absolut prekären Bedingungen. Das Prekariat reicht bis in die Träume hinein: Kann er sich ein besseres Leben ausmalen? Es gibt überhaupt keine Perspektive - eine tragische Situation.

Standard: Michel als Gewerkschaftsfunktionär kann dagegen auch nichts unternehmen - eine Kritik an den Gewerkschaften?

Guédiguian: Nein, eher eine Feststellung über die Bedingungen, unter denen die Gewerkschaften heute arbeiten müssen. Es ist ja nicht so, dass sich die Gewerkschaften um solche Fälle nicht kümmern wollten, aber es ist sehr schwierig geworden, prekäre Arbeitskräfte anzusprechen. Wo sind die nicht überall! Nehmen wir dieses Hotel, in dem wir gerade sind, als Maßstab: Da arbeiten vielleicht tausend Leute, früher wäre es nicht so schwierig gewesen, sie alle im Untergeschoß zu versammeln. Heute ist es kaum mehr möglich, alle zu organisieren. Ein Gewerkschafter wie Michel wäre erfreut, wenn er Mittel und Wege fände, das umzusetzen, was er sich wünscht.

Standard: Aber waren die Gewerkschaften vielleicht nicht wendig genug, um sich an flexible Arbeitsverhältnisse anzupassen?

Guédiguian: Das stimmt auch. Gerade in Frankreich unter Sarkozy ist es darum gegangen, die Errungenschaften der letzten 30 Jahre zu verteidigen. Im Sozialbereich wird kontinuierlich abgebaut, sodass sich die Gewerkschaften in einer Art Defensivbewegung mobilisieren. Doch der Tag hat nun einmal nur 24 Stunden, man kann sich nicht für alles einsetzen. Die offensive Richtung, die darin bestanden hätte, auf neue Gruppen zuzugehen und ihre Anliegen zu vertreten, hat an Kraft verloren.

Standard: Im Film sorgt ein verstecktes Märchen dafür, dass sich die Dinge überraschend zum Guten wenden. Ähnliches praktizierte auch Kaurismäkis Film "Le Havre" - ist die Macht der Fiktion, die Utopie, der letzte Anker des Sozialrealismus?

Guédiguian: Ich denke schon - das habe ich auch mehrmals so erzählt. Kaurismäki und ich kennen uns gut. Es gibt allerdings einen großen Unterschied: Seine Filme sind viel stärker stilisiert, er betont durch seine Inszenierung das "Märchenhafte" und macht die Utopie von vornherein stärker kenntlich - fraglos sehr schön. Bei Kaurismäki spürt man, dass er einen Vorschlag macht, an dem nicht alles wahr ist. Meine Fiktion ist stärker naturalistisch geprägt: Man könnte durchaus glauben, dass das, was ich erzähle, die Wahrheit ist und gar keine Utopie. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 15.3.2012)