Wirres Haar und klar abgegrenztes Antlitz: Klimts Studie der Julia für " Theater Shakespeare" (1886-1888) im Stiegenhaus des Burgtheaters ist eines der klarer ausgearbeiteten Blätter in der Schau. Foto:

Foto: Albertina

Wien - Das energische Kinn, die tiefe Furche in der Stirn, die Lachfältchen um die halbgeschlossenen Augen mit den über die Jahre schlaff gewordenen Lidern. Strich für Strich scheint Gustav Klimt die Hautoberfläche seines männlichen Modells abgetastet zu haben. Entsprechend realistisch ist seine Kopfstudie für den römischen Patrizier in Theater in Taormina (1886-1888) geraten. Eine sensible und respektvolle Annäherung an die Figur, die sogar nuancierter geraten ist als die gemalte Fassung. Für den "Frauenmaler" Klimt ein erstaunliches Blatt. 4000 Zeichnungen - überwiegend zur menschlichen, vor allem weiblichen Figur - gibt es von Klimt. Bereits zu seinen Lebzeiten (und kurz nach seinem Tod 1918) sind diese gehandelt worden. "Was kostet das Ganze, Herr Nebehay? Addieren Sie!", ist ein legendäres Zitat von Industriellengattin Serena Lederer überliefert, die dem staunenden Kunsthändler gleich sämtliche ausgestellte Klimt-Werke abkaufte. 170 Blätter des talentierten und unermüdlichen Zeichners sind im Besitz der Albertina. 130 davon (ergänzt um dreißig Leihgaben) speisen nun den Beitrag des Hauses zum Klimt-Jahr. Reiche Bestände, die die Reise vom Historismus über Symbolismus und Goldenen Stil bis in die späten, zeichnerisch von erotischen Themen dominierten Jahre des Künstlers leichtmachen.

Schwung der Umrisslinie

Trotzdem bleibt die Schau Gustav Klimt. Die Zeichnungen blass. Nicht allein, weil die zarten Bleistift- und Kreidestriche, die den Betrachter nahe heranzwingen, oft mit dem Papier zu verschwimmen drohen. Sondern weil man nicht von der Kraft der Linie ablenken wollte. Daher entschloss man sich, die Studien und Skizzen alleine zu präsentieren - also ohne Abbildung der finalen Gemälde für die sie gemacht wurden. Sich einmal ganz auf die Linie einzulassen, das Auge dem Schwung der Umrisse und der Drehung des Zeichenstiftes folgen zu lassen, ist sicher nicht verkehrt. Allerdings machen solche Betrachtungen bei autonomen Zeichnungen mehr Sinn als bei solchen, die als Vorstudien entstanden. Die meisten der präsentierten Klimt-Blätter haben jedoch Skizzenstatus: Es sind schnell hingeworfene Überlegungen zur Komposition, zu Pose und Drehung der Figuren und Charakteristika der Gesichter. Für die Por-trätgemälde - etwa von Serena Lederer (1898/99) oder Adele Bloch-Bauer (1907) fertigte er zahlreiche Skizzen: "Um das Wesen der Frauen zu erfassen", sagt Kuratorin Marian Bisanz-Prakken.

Um die Virtuosität des Zeichners Klimt, seinen schnellen, sicheren und später immer lockerer werdenden Strich, geometrische und ornamentale Tendenzen vorzuführen, dafür würden wenige Blätter genügen. Bei einer Schau über sechs Säle, die im Aufbau der Chronologie konkreter Aufträge und Gemälde folgt (darunter die Deckengemälde für das Burgtheater, den Beethovenfries, die Fakultätsbilder und die zahlreichen Frauenbildnisse) und diese anhand der Zeichnungen zu illustrieren sucht, scheint das zu wenig.

In Kringeln aufgelöst

Denn die so offen bleibenden Fragen sind: Welche Komposition, welches Detail entspricht dem Endergebnis? Was von den ineinander verschlungenen Liebespaaren, die Klimt 1907/08 in nervösen Umrisslinien festgehalten hat, ist in Erfüllung (1910) aus dem Stocletfries oder den berühmten Kuss (1908) eingegangen? Wer verrät dem Betrachter, dass in der lebensgroßen Übertragungsskizze zu Die drei Lebensalter (erstmals in Österreich ausgestellt) die junge Mutter mit Kind im Vergleich zum Original noch spiegelverkehrt dasteht? Oder: Wie sieht das Gemälde-Pendant zu dem in Kringeln aufgelösten Körper der Ria Munk aus? Und entschied sich Klimt bei Margarethe Stonborough-Wittgenstein (1905) letztendlich für die Frontale oder doch für ein Dreiviertelprofil?

Für den Klimt-Auskenner mag das ein Kinderspiel sein: Dieser ruft vor seinem geistigen Auge die entsprechenden Gemälde ab. Bilder, die etwa die seltsamen Verrenkungen mancher Figuren nachvollziehbar machen. Alle anderen tun sich mit solchen Gedächtnisvergleichen erheblich schwerer (oder kaufen den Katalog um € 29,-) und hängen daher, so wie mancher von Klimts Strichen, in der Luft. Eine ästhetisch harmonische Hängung, die die Zeichnungen stärken wollte, aber das Gegenteil erreicht hat.

Dort, wo die Zeichnungen jedoch für sich stehen, liegt das Potenzial der Ausstellung. Da kann auch ohne Vergleichsbeispiele Interessantes entdeckt werden: etwa in Klimts expliziteren Aktzeichnungen. Darin entwickelt die Zartheit der Linie sogar eine inhaltliche Komponente. Denn seine in exquisiten Posen festgehaltenen Strichweibchen erhalten so etwas Entrücktes, Verschwindendes. Die von der Kraft der Vorstellung lebende Erotik steigert das. Oder die Allegorie der Skulptur (1889), ein Blatt für einen Prachtband, in dem Klimt die Motive verschiedener Realitätsebenen wie in einer Collage zusammenmontiert. Auch dies eine spektakuläre Zeichnung. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 14.3.2012)