Inhalte des ballesterer Nr. 70 (April 2012) - Ab 13.3. im Zeitschriftenhandel!

SCHWERPUNKT: Karl Deckers Wunderteam

TAGEBUCH DER VERGEBENEN CHANCE
Karl Decker und der Siegeszug der verhinderten Weltmeister

BLAU-GELBER KANONIER
Als Spieler beeindruckte Decker die Vienna-Fans und Sepp Herberger

UNGEKRÖNTE HELDEN
Kurzporträts von Hanappi, Koller, Senekowitsch, Hof und Co.

NACHSPIELZEIT
Der FC Nationalrat

Außerdem in neuen ballesterer

WENN SPIEL ARBEIT WIRD
Die Diagnose Burn-out ist im Fußball angekommen

EINSTÜRZENDER ALTBAU
Der Wiener Sportklub braucht eine neue Fantribüne

»ES BRINGT NICHTS; WENN MAN DEN SCHAUSPIELER GIBT«
Zoran Barisic im Interview

SIE NENNEN SIE MÄRTYRER
Im Stadion von Port Said starben über 70 Al-Ahly-Fans

AFRIKA-CUP 2012
Sambischer Traum, kontinentale Realitäten

»ES GIBT EIN STETIGES WACHSTUM IN AFRIKA «
Sulley Muntari im Interview

MLLIONENSPONSORINGS OHNE WERBEWERT
Kärnten arbeitet seine Hypo-Vergangenheit auf

NEUE RUBRIK: »TAKTIK TOTAL«
Der »falsche« Neuner

UNSPORTLICHE PARALLELJUSTIZ
Immer mehr Vereine geben Strafen an Fans weiter

DR. PENNWIESER
Langer Großzehenstreckersehnenriss

PRESSECORNER
Der volkstümliche Korruptionist

KRAFTWERK
Die besten Fußballgedichte

GROUNDHOPPING
Matchberichte aus Australien, Deutschland, Israel, Italien und der Schweiz

Foto: Cover/Ballesterer

Rudolf Flögel, Hans Buzek und die gut sortierten Legendenfotos. In der "Floridsdorfer Stuben".

Foto: Daniel Shaked

Buzek und Flögel schauen sich den Stammbaum der österreichischen Fußball-Legenden genauer an.

Foto: Daniel Shaked

An einem Samstagnachmittag treffen wir Hans Buzek und Rudolf Flögel zum Interview in der "Floridsdorfer Stuben". In dem Lokal findet einmal im Monat ein Treffen österreichischer Teamspieler der letzten 50 Jahre statt. Der Wirt verfügt über ein Hinterzimmer, das mit Fotos der Fußballlegenden dekoriert ist. Die Gesprächspartner sind voll des Lobes für den Chef. "Heast, das habe ich noch gar nicht gesehen! Schön hast du das gemacht", sagt Flögel. Und Buzek entdeckt ein Foto von Flögel im Zweikampf: "Schau, Rudi, da bist du!" Beim ballesterer-Interview machen der in adretten Zwirn gekleidete Buzek und Flögel, der oft vom Sessel aufspringt, um Spielzüge und Torschüsse nachzustellen, nicht den Eindruck, als würden hier zwei über 70-Jährige sitzen.

ballesterer: Vor 50 Jahre ist Österreich nicht zur WM nach Chile gefahren, obwohl die Nationalmannschaft unter Trainer Karl Decker reihenweise die Großen des europäischen Fußballs besiegt hat. Was hat Decker als Trainer ausgezeichnet?

Rudolf Flögel: Decker hat technisch gute Spieler sehr geschätzt und sich für einen kreativen Fußball begeistert. Damals hat der Wiener Sport-Club sehr gut gespielt: Walter Horak, Adolf Knoll, Erich Hof, Josef Hamerl, Karl Skerlan waren ein Traumsturm auch im Team, die haben ja 1958 Juventus 7:0 geputzt. Die Sport-Club-Spieler haben dann nach und nach aufgehört, und in der Phase der Umgruppierung sind wir Jungen – der "Schani" Skocik, der Walter Glechner und ich – nachgerückt. Wir haben gut zu den technisch starken Teamspielern gepasst. Ich habe auf der rechten Seite im Mittelfeld gespielt. Die Erfolgsserie hat 1960 begonnen, gerade zu dem Zeitpunkt, als ich ins Team gekommen bin. Wir haben Schottland, Russland, Spanien, Italien, England und Ungarn nacheinander besiegt.

Hans Buzek: Der Decker war ein Mensch, der im Team auf Unterhaltung gesetzt hat. Fußballspielen haben wir ja alle können, aber er hat das Zusammengehörigkeitsgefühl forciert. Wir sind richtige Freunde geworden, und das ist dann auch im Spiel zum Tragen gekommen.

Welche Rolle hat dabei die Vorbereitung gespielt? Decker hat die Trainingslager ja fast immer in Baden abgehalten.

Buzek: Genau, im "Herzoghof" in Baden. Dort haben wir trainiert, und er hat sich etwas überlegt, um die Freizeit zu gestalten. Decker ist bei den Leuten sammeln gegangen und hat ein Preisschnapsen veranstaltet. Das fördert den Zusammenhalt, wir haben uns auf dem Platz und abseits einfach blind verstanden. Da hast du dich jedes Mal gefreut, wenn du im Team dabei warst.

Flögel: Der Decker war bei uns Jungen sehr beliebt, weil er uns eine Chance gegeben hat. Er hat auch sehr gut motivieren können und den Spielern Selbstvertrauen eingeimpft, auch wenn es im Training einmal nicht so gut gelaufen ist.

Buzek: Als Spieler war er da noch anders. Als ich mit 17 bei der Vienna gespielt habe, waren da schon ein Karl Koller, ein Otto Walzhofer und so weiter. Die haben mich alle unterstützt. Wenn ich einen Fehlpass gemacht habe, haben sie mich aufgebaut: "Macht nix, passiert uns auch. Probier's weiter." Mitspieler haben mir erzählt, dass der Decker dich stattdessen einen Trottel geschimpft hat.

War die Mischung aus Routiniers und jungen Spielern verantwortlich für den Erfolg?

Buzek: Ja, natürlich. Da waren Karl Stotz, Gernot Fraydl, Karl Koller, Gerhard Hanappi, Helmut Senekowitsch, Erich Hof, Horst Nemec. Linksaußen hat der Fritz Rafreider gespielt. Auch der Rudolf Oslansky vom Sport-Club hat ein paar Mal im Mittelfeld gespielt. Das war schon eine sehr gute Truppe. Wir haben sehr gut harmoniert.

Flögel: Was man dabei nicht vergessen darf: Wir haben mit fünf Stürmern gespielt.

So ein System kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen ...

Flögel: Decker hat mit Zwei-Meter-Männern wie Nemec und Buzek in der Mitte gespielt, die kleineren wie ich und Rafreider sind von der Seite gekommen.

Sind wirklich immer fünf Spieler vorne gewesen? Oder hat der eine oder andere auch in der Verteidigung helfen müssen?

Flögel: Später sind der Halbrechte und der Halblinke ein bisschen zurückgegangen. Das war dann leichter für mich. Ich war ja etwas schwächer gebaut und habe früher immer einen Gegenspieler hinter mir im Genick gehabt. Wenn ich den Ball mit dem Rücken zum Tor angenommen habe und mich umdrehen wollte, bin ich schon wieder gelegen. (führt das Foul vor) Wenn du aus der eigenen Hälfte spielst, hast du den Gegenspieler vor dir, das ist mir dann zugutegekommen.

In den damaligen Zeitungen steht, dass Decker meist mit einem 4-2-4-System gespielt hat, bei dem ein Läufer aus dem Mittelfeld nach hinten gegangen ist und Helmut Senekowitsch hängende Spitze gespielt hat.

Flögel: Ja, der Senekowitsch war ein Rackerer, der hat immer so gespielt. Der ist aus der eigenen Hälfte gekommen, hat die Bälle verteilt und auch erkämpft. Aber wie der Hans schon gesagt hat: Die Mischung hat's ausgemacht. Wenn einer krank war, hat ein anderer gespielt, und es war kein Qualitätsunterschied zu merken. Wenn heute zwei Spieler ausfallen, bricht gleich alles zusammen.

Buzek: Man kann die damalige Zeit aber nicht mit heute vergleichen. Die Räume sind viel enger.

Flögel: Die Bewegung ohne Ball war ganz wichtig. Heute spielt jeder im Raum. Positionen wie zu unserer Zeit gibt's nicht mehr.

Buzek: Interessant war der Horst Nemec. Mit dem habe ich ja später gemeinsam bei der Austria gespielt. Nemec war ein Austria-Eigenbauspieler, der als junger Bursch von Helfort gekommen ist, ein gelernter Mittelstürmer. Und der Decker hat ihn im Team immer auf der rechten Stürmerposition aufgestellt. Der hat dort eingeschlagen, das war einmalig. Ich habe meinen gelernten Platz im Angriffszentrum beim Decker fix gehabt. Als ich 1963 zur Austria gekommen bin, haben ihn die Mitspieler gehäkelt: "Heast, Langer. Jetzt kommt der Mittelstürmer von der Vienna, und du musst wieder auf die rechte Seite ausweichen." Kaum haben wir zusammengespielt, sind wir gleich mit den Köpfen zusammengekracht, so dass ich eine Platzwunde gehabt habe, weil der Horst nicht nach rechts außen gegangen ist.

Auch Erich Hof war ein gelernter Mittelstürmer. Also hat Decker mit Hof, Nemec und Ihnen mit drei echten Mittelstürmern gespielt.

Buzek: Genau. Dadurch, dass das Erfolg gebracht hat, war jeder zufrieden.

Damals sind auch die ersten Spieler aus den Bundesländern ins Nationalteam gekommen. Fraydl vom GAK, Heribert Trubrig vom LASK und Rafreider vom Zweitliga-Klub Dornbirn. Was haben sich die Wiener Spieler da gedacht?

Flögel: Es war damals immer noch so: Wenn Rapid die Austria geschlagen hat, waren sieben Rapidler im Team. Hat die Austria gewonnen, waren mehr Austrianer im Team. Es hat immer eine Blockbildung gegeben. Ist einer verletzt ausgefallen oder war krank, dann hat man auf die Spieler aus der Provinz zurückgegriffen. Dann hat eben der Franz Viehböck vom LASK im Team gespielt oder ein Tormann von sonst woher. Aber der Stamm war von Rapid und Austria. Es waren immer nur ein, zwei aus den Bundesländern dabei, weil man sie in Wahrheit nicht gebraucht hat. Wien war die Hochburg, noch dazu mit der Vienna und dem Sport-Club. Heute spielt genau ein Rapidler im Team.

Buzek: Von der Vienna brauchen wir gar nicht reden. (lacht)

Aber Fraydl, Trubrig und Rafreider haben ja mehr oder weniger Stammplätze im Nationalteam gehabt.

Flögel: Ja, ja, wenn sie ihre Leistung gebracht haben, hat's keinen Grund gegeben, sie rauszustellen.

Buzek: Solange der Erfolg da war, hat Decker fast immer mit der gleichen Aufstellung gespielt. Bis es zum Bruch gekommen ist, als Decker den Hanappi aus dem Team genommen hat. Na, da war die Hölle los! Das war ja der Liebling der Nation! Deckers Katastrophenspiel war das 0:6 gegen die Tschechoslowakei. Dann war er angezählt.

Kurz zu den Anfängen: Nach der WM 1958 hat im österreichischen Fußball Frustration geherrscht. Karl Decker hat dann im Alter von 37 Jahren das Amt des Bundeskapitäns übernommen, mit Robert Körner als Co-Trainer. Wie ist man auf ihn als Teamchef gekommen?

Buzek: Das war im 58er Jahr. Bei der WM war Josef Argauer Teamchef, Pepi Molzer war der Trainer. Dort haben wir nicht die Leistung gebracht, die von uns erwartet wurde, also hat man bald danach den Decker geholt. Decker ist es wichtig gewesen, dass wir eine Hetz haben. Beim Training hat immer eine Gaudi sein müssen. Dadurch haben wir uns mit der Zeit gesteigert.

Besonders aufsehenerregend war im Herbst 1961 das 1:0 in Moskau gegen die Sowjetunion. Immerhin haben Sie den regierenden Europameister geschlagen. Wie waren Ihre Eindrücke von dieser Reise?

Buzek: Ich weiß noch, dass der Decker von einem befreundeten Fleischhauer einen Haufen Würstel mitbekommen hat, weil's dort ja nichts zu essen gegeben hat.

Vor allem bei dem ungeplanten Zwischenstopp in Warschau, weil die Maschine zunächst nicht in Moskau landen konnte?

Buzek: Genau. Das war vielleicht eine Hetz, auch das hat zum Zusammenhalt beigetragen. Im Match selber hätten wir genauso gut eine 0:5-Schleife kassieren können. Aus einem Konter hat der Rafreider das 1:0 geschossen. Der Stotz Karli und der Fraydl haben die Führung verteidigt, das war einmalig.

Herr Flögel, das Tor haben Sie aufgelegt.

Flögel: Na ja, aufgelegt. Ich habe ausgeputzt, die Kugel nach vorne gedonnert und gar nicht geschaut, wo der Ball hingeht. Das war kein beabsichtigter Pass.

Buzek: Geh, hör auf, du musst sagen, dass du den Pass wollen hast! (beide lachen)

Haben Sie sich in Moskau frei bewegen können?

Buzek: Es war schon alles streng kontrolliert. Wir haben im größten Hotel gewohnt, und in jedem Stock ist die Sicherheit gesessen und hat aufgepasst, dass keiner unbefugt rein oder raus kann. Ein paar Spieler wollten die hübschen Mädchen mit aufs Zimmer nehmen, aber das ist nicht gegangen, da wärst' gleich verhaftet worden. (lacht)

Das Spiel hat im Lenin-Stadion, dem heutigen Luschniki-Stadion, vor 103.000 Zuschauern stattgefunden. Wie war die Stimmung gegenüber der österreichischen Mannschaft?

Flögel: Die waren sehr fair, uns gegenüber ist keiner feindselig gewesen.

Zu Deckers Schicksalsspiel, dem 0:6 gegen die Tschechoslowakei, heißt es, die Niederlage sei am neuen defensiven System der Tschechen gelegen, mit dem sie 1962 auch Vizeweltmeister geworden sind. Haben sie taktisch oder athletisch so anders gespielt als die Österreicher?

Buzek: Nein. Wie soll man sagen? Wenn's lauft, dann lauft's. Und sobald du als Team einem Rückstand nachrennen musst, kommst du plötzlich immer einen Schritt zu kurz. Dann geht nichts mehr.

Flögel: Aber eines muss man schon sagen, was die damaligen Gegner betrifft: Gerade die Ungarn waren immer um das bissl besser, aggressiver als wir, eben der Paprika! Sie haben immer geraunzt: "Na, heute gewinnt's ihr!" Und dann haben's uns ordentlich eineghaut. (Interview: Georg Spitaler & Clemens Gröbner)