Franz Schuh : "Es gibt auch eine Kunst, die anderes zu tun hat, als dem guten Willen der Politik auf die Beine zu helfen ..."

Foto: STANDARD / Hendrich

Claudia Schmied: "Ich beobachte mit Sorge, dass es zu keinem Umdenken und Hinterfragen der Handlungsmuster kommt. Es tritt keine kritische Reflexion darüber ein, was uns so weit gebracht hat."

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Geplant war das Gespräch zwischen Franz Schuh und Claudia Schmied eigentlich in Reichenau, anlässlich des - zu großen Teilen privat finanzierten - Literaturpreises Wartholz. Franz Schuh sitzt in dessen Jury, Bundesministerin Schmied eröffnete, zwei Wochen ist es her, den Bewerb. Aus dem geplanten Gespräch über Literaturförderung in Wartholz wurde schließlich aus Zeitgründen ein Termin im Kulturministerium und eine Diskussion über die Lage von Künstlern und staatliche Subventionspolitik.

Standard: Steht Kunst nicht immer automatisch auf der Gegenseite der Macht, der Politik?

Schuh: Das sind die sogenannten Habilitationsfragen. Da die Politik ein Teil der Geschichte ist und die Kunst ein Teil der Geschichte, könnte man annehmen, dass die Berührungspunkte zwischen Kunst und Politik historisch jeweils unterschiedlich ausfallen: Das Verhältnis von Kunst und Politik ist immer ein anderes. Es gibt einerseits die Auffassung, dass Kunst überhaupt nichts mit Politik zu tun hat und sich selbstreferenziell verhält, sich nur auf sich selbst bezieht. Mit Adorno kann man einen anderen Standpunkt einnehmen: Kunst sei die gesellschaftliche Antithese zur Gesellschaft; sie ist autonom, funktioniert unberührt von den politischen Voraussetzungen - und ist gerade dadurch politisch. Eine These von Walter Benjamin lautet, dass es sehr wohl ein Verhältnis zwischen Kunst und Politik gibt, aber nicht in der Produktion von politischen Meinungen. Nicht wie sich die Kunst zu den Produktionsverhältnissen verhält, nicht was sie darüber meint, sondern wie sie selbst in den Produktionsverhältnissen steht, das ist die Frage.

Schmied: Ist das nicht auch sehr stark von der Politik abhängig? Also von ihrer Haltung, ihrer Reife, ihrem Status. Wenn ich eine selbstbewusste, liberale Haltung vertrete, dann wird mein Verhältnis zur Kunst ein anderes sein, als wenn ich einen diktatorischen Zugang und damit ein Machtverständnis habe, das dazu neigt, andere - egal in welcher Funktion diese sind - zu instrumentalisieren. Kunst als selbstreferenzielles System erfordert eine aufgeklärte, emanzipatorische Haltung - auch der "Mächtigen". Bei Kunst- und Kunstförderung reden wir heute immer sehr schnell von Geld. Ich bin als Kunstministerin überspitzt formuliert fast öfter mit Finanzfragen konfrontiert als vorher in meiner Arbeit in der Bank. Dadurch wird eine zweite Dimension zu wenig beleuchtet, nämlich die Freiheit der Kunst. Und damit das Bereitstellen von Möglichkeiten, die künstlerische Entfaltung ermöglichen. Diese Rahmenbedingungen können sich - Beispiel Ungarn - sehr rasch ändern. Ich glaube, dass Kunst, wenn man sie als gewaltfreie Austragung von Konflikten im Sinne einer kritischen Reflexion versteht, die liberale aufgeklärte Haltung der Politik ein Stück weit braucht.

Schuh: Das ist besonders dann richtig, wenn man ein Konzept hat, in dem die Verträglichkeit, also die Kombinierbarkeit von Kunst und Politik, die Utopie ist. Aus der Geschichte hingegen weiß man, dass es nicht nur die Politik ist, die freie Entfaltung gleich welcher Systeme verhindern kann. Es hat auch Künstler gegeben, die mit autoritären oder archaischen Gesellschaftsvorstellungen bedeutende Kunst zusammenbrachten. Ein Roman wie Die Merowinger von Doderer ist ein großartiges Buch. Es simuliert aber eine Art von Politik oder äußert ein Vergnügen an einer Art von Politik, die man vom politisch-humanitären Standpunkt besser ablehnt. So bringt einen Politik um den Kunstgenuss!

Schmied: Das betrifft den Inhalt, und dann auf einer zweiten Ebene die Frage, wie mit dem Werk umgegangen wird. Wie wird es aufgenommen, wie wird es rezipiert? Und da glaube ich, wird der Unterschied sichtbar. Eine diktatorische Haltung, die entweder zu Zensur und Behübschung neigt, oder im Gegenteil ein offener Zugang, der etwas zulässt, es besprechbar und ansprechbar macht. Dazu braucht es einen Raum, den ich mit Öffentlichkeit beschreiben möchte.

Schuh: Die Öffentlichkeit ist überhaupt die Krux. Alexander Kluge hat es oft gesagt, dass Öffentlichkeit "das Gefäß" auch unserer privaten Gedanken ist. Ohne Öffentlichkeit, ohne eine freie, sich selbst entwickelnde Organisation der Öffentlichkeit weiß man auch im Privaten nichts zu sagen. Zumindest fällt die freimütige Rede schwerer. Es ist meines Erachtens eine fatale Entwicklung, die seit der Aufklärung selbst das geheimste Denken öffentlichkeitsabhängig konstituiert. Das bedeutet, dass "die Österreicher" denken wie die Krone. Die Krone, dieses österreichische Gefäß, formt die Gedanken, gerade die privatesten. Man könnte sich nun dem üblichen Jammer über die österreichische Öffentlichkeit und ihre Organisation anschließen.

Standard: Soll die Öffentlichkeit Kunst subventionieren?

Schuh: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Kunst unbedingt darauf angewiesen ist, gefördert zu werden. Die Zeiten der Zensur zum Beispiel regten durchaus dazu an, künstlerische Strategien zu entwickeln. Interventionen von außen, gerade negative, bringen eine bestimmte, scharfsinnige Intelligenz hervor und ermöglichen Kunst auf ihre Art. Die Zensur ist eine Subvention wider Willen. Damit sind wir in einer paradoxen Situation: Es kann sich die Förderung von Kunst zerstörerisch auswirken, und es können sich umgekehrt Interventionen, in Form von Zensur oder sozialen Drucks, förderlich auswirken. Das weist auf ein Moment der Kunstproduktion hin, nämlich dass sie etwas Unverfügbares hat und dass in dieser Unverfügbarkeit auch eine Art von Intelligenz steckt, mit der man sogar die politischen Verhältnisse überrumpeln kann.

Schmied: Ich mache mir weniger Sorgen um die Kunst, weil sie ja die angesprochene Überlebensfähigkeit und Energie immer wieder unter Beweis stellt. Ich mache mir eher Sorgen um die Gesellschaft. Ich las vor kurzem Arno Gruens Buch Der Fremde in uns, in dem sich Gruen als Psychoanalytiker mit dem Thema beschäftigt, wie es möglich war, dass der Nationalsozialismus durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch Realität wurde. Gruen führt diese Entwicklung auf den Mangel jedes Einzelnen an Identität, Selbstbewusstsein, an Ich-Stärke zurück. Er kommt zur Grundaussage, dass es auf die emotionale Reife der Bürger ankommt, ob sie Demokratie leben können. Emanzipation, Aufklärung, Kritikfähigkeit führen zu einem aufrechteren Gang. Konfliktfähig bin ich, so mein Grundsatz, wenn ich mich unabhängig souverän wahrnehme.

Schuh: In dem Zusammenhang steckt wieder ein Paradox. Wenn wir das Konzept der Freiheit und der freien Entfaltung der Kunst befürworten, dann müssen wir auch zugestehen, dass es einen nicht geringen Teil von Kunst gibt, der sich weigert, bei dieser Ästhetik des allgemeinen gesellschaftlichen Nutzens mitzuspielen. Es gibt eine Kunst, die grundsätzlich nicht bereit ist, an dem mitzuwirken, was Politiker für einen Aufklärungsprozess halten. So müsste das aufgeklärte Verhältnis der Politik zur Kunst auch eine Kunst umfassen, die sich gegen dieses Aufklärungsspiel auflehnt. Das wäre aber nur dann möglich, wenn man den Konflikt austrägt: Würde man diese Kunst bloß gewähren lassen, wäre das repressive Toleranz, es entstünde keine gesellschaftlich nützliche Reibung. Wir neigen durch die langen Jahre der Sozialdemokratisierung unserer Gesellschaft allzu leicht dazu, einwandfreie Gesinnungen immer schon für Kunst zu halten, weil sie diesen emanzipatorischen Anteil betonen, den Kunst ja auch haben kann. Aber es gibt auch eine Kunst, die anderes zu tun hat, als dem guten Willen der Politik auf die Beine zu helfen.

Schmied: Sie meinen emanzipatorisch im Sinn von pädagogisch.

Schuh: Ich bin zu sehr von Brecht begeistert, um das Pädagogische nicht auch wertschätzen zu können. Die Aversion gegen das Pädagogische wird oft von Leuten vorgetragen, die Dogmatiker des Kulinarischen sind. Das Dogma der Kulinarik führt in die dekorative Kunst, und die schmeckt mir nicht.

Schmied: Ich meine eher die politische Kunst, um das Stichwort Brecht aufzunehmen. Nicht parteipolitisch, sondern politisch. Im Sinne davon, dass es gilt, zu den herrschenden Verhältnissen eine Meinung zu haben.

Standard: Stichwort "aufrechter Gang". Primär erscheint unsere Gesellschaft von Angst beherrscht?

Schmied: Wir sollten das Thema Angst stärker ansprechen. Ich halte nichts vom Zudecken von Problemen, weil dann andere das Thema aufnehmen. Es ist erstaunlich zu beobachten, dass sich meiner Wahrnehmung nach manche, die ökonomisch gesehen sichere Positionen haben, besonders fürchten. Ich war überrascht, dass im öffentlichen Bereich, in dem es wenig um Existenzsorgen gehen müsste, trotzdem ein hohes Maß an Verunsicherung herrscht. Wir, auch die Sozialdemokratie, haben lange mit vielen Sicherungssystemen gearbeitet. Diese fallen zusehends weg, und daher glaube ich, dass es eine der größten Herausforderungen ist - und da sehe ich die Aufgabe auch als Bildungs-, Kunst- und Kulturministerin - Zuversicht und Selbstvertrauen zu stärken. Auch um von denen, die uns eine Sicherheit versprechen, die sie nicht gewährleisten können, unabhängiger zu werden. Wobei ich es ebenso bedenklich finde, dass gegenwärtig unter dem Stichwort Selbstverantwortung alles auf den Einzelnen zurückgespielt wird. Wir müssen darauf achten, dass der Bereich der öffentlichen Hand nicht weiter erodiert.

Standard: In Zeiten der Budgetkrisen weisen die Zeichen allerdings in eine andere Richtung.

Schmied: Ich lese gerade das Buch Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus des Soziologen Colin Crouch. Es ist interessant, dass wir vonseiten der öffentlichen Hand Rettungsschirme aufspannen, um ein vom Finanzsystem abhängiges Wirtschaftssystem zu sichern und damit gleichzeitig Budgetkrisen auslösen. Diese wiederum führen dazu, dass der Bereich, den wir stärken müssten, nämlich die öffentliche Hand und die res publica, durch das, was man eigentlich stützen wollte, noch mehr geschwächt wird. Ich beobachte mit Sorge, dass es zu keinem Umdenken und Hinterfragen der Systeme und Handlungsmuster kommt. Es tritt keine kritische Reflexion darüber ein, was uns so weit gebracht hat, weil die Kräfte, die diese Reflexion leisten sollten, schwächer werden.

Schuh: Es ist bemerkenswert, dass in der Öffentlichkeit Publizisten auftauchen, die vom Habitus her einander ähneln und mit einer Leidenschaft ohnegleichen genau diese Reflexion verhindern. Sie vertreten die These, unser Wirtschaftssystem schaffe für uns die beste aller Welten! Das Einzige, so sagen sie, was falsch laufe, sei, dass die Politik die Finanzwirtschaft nicht noch ungestörter arbeiten lasse. Ich habe das Gefühl, und das betrifft ja auf interessante Weise auch die sogenannte Kultur- oder Literaturförderung, dass die Öffentlichkeit in einem unfruchtbaren Streit gefangen ist. Die einen sagen, der Staat war' s. Die anderen sagen, die Finanzwirtschaft war's. Die merkwürdige Art, wie diese Bereiche zusammenspielen, immer schon zusammengespielt haben, kommt bei dieser Debatte nicht zum Vorschein, weil das Interesse dabei hauptsächlich die propagandistische Blockierung des Gegners ist. Man will blockieren und isolieren. Was die Kunstförderung betrifft, sagen die einen, der Staat ist dazu da, um zu fördern. Die anderen sagen, um Bernhards Diktum zu zitieren: "Wer einem Künstler hilft, vernichtet ihn."

Schmied: Ich glaube trotzdem, dass Förderungen für viele sehr wichtig sind. Ob es sich nun um Stipendienprogramme, Auslandsaufenthalte, Preise oder Verlagsförderung handelt, ohne die es manche Verlage nicht mehr geben würde. Unter reinen Marktbedingungen würde es keine Vielfalt geben. Was Bernhard betrifft, ist wichtig zu sehen, wer das sagt und wann. Das sagt ein Autor zu einem Zeitpunkt, als er von regelmäßigen Vorschüssen des Suhrkamp-Verlags gelebt hat.

Schuh: Da bin ich vorsichtig, weil Moral immer etwas Kontrafaktisches hat: Selbst wenn ich unmoralisch bin, gilt die moralische Regel. Selbst wenn einer kassiert, könnte er moralisch recht haben, dass man es besser sein lässt. Wenn du nicht vom Staat abhängig bist, Bursche, dann bist du vom Markt abhängig. Abhängig bist du immer. Das gehört zu modernen Gesellschaften, dass es niemanden gibt, der total unabhängig wäre. Was es aber gibt, sind Leute, die ständig Unabhängigkeit im Mund führen, die sie zwar selbst nicht haben, aber grundsätzlich allen abverlangen.

Schmied: Trotzdem braucht es eine marktfreie Zone.

Schuh: Man soll aber nicht vergessen, was für eine Befreiung der Markt gegenüber dem Feudalsystem war. Und dass sich dort, wo marktfreie Zonen existieren, heute noch feudalähnliche Verhältnisse herstellen lassen. Es ist lange her, aber es gab einen Punkt, an dem es einem Teil der Sozialdemokratie reichte. An ihrem rechten Flügel merkte man, dass Förderung von intellektueller und künstlerischer Arbeit keine Stimmen mehr brachte. Da schrieb der damalige Kärntner Landeshauptmann Leopold Wagner einen Günter Nenning betreffenden Leserbrief an das Profil. Dieser Nenning, schrieb der Hauptmann, kriegt von uns viel Kohle, daher soll er auch tun, was wir sagen. Da wurden für mich zum ersten Mal in der sozialdemokratischen Idylle "Wir verstehen die Kunst und wir fördern sie" grobe Risse sichtbar.

Standard: Viel Geld fließt in die Bundesmuseen und Bundestheater, die unabhängige Szene kommt stärker unter Druck.

Schmied: Kurz zu den Fakten. Begonnen habe ich mit einem Budget von 405 Millionen, und es ist dann in zwei Etappen gelungen, auf rund 433 Millionen Bundesbudget zu kommen. Persönlich bin ich froh, dass unter den gegebenen Bedingungen das Budget jetzt stabil bleibt. Natürlich weiß ich um die Inflation und darum, dass es wichtig wäre, das Budget anzuheben. Aber das ist unter den gegebenen Bedingungen schlicht nicht möglich oder durchsetzbar. Beim Bund war es, und das ist jetzt ein Blick in die Geschichte zurück, immer so, dass ein Großteil der Förderungen in die Bundesmuseen und Bundestheater ging und ein kleinerer Teil in die Projektförderung. Ich habe bei Kreisky nachgelesen, der einmal sagte, man sollte in diesem Bereich zu einer Balance kommen. Das ist ganz schwer bei einer Relation von 70 zu 30. Das heißt, 70 Prozent der Bundesmittel gehen in die Institutionen. Wobei wir das in jedem Kulturausschuss immer wieder diskutieren. Ich versuche aber, das eine nicht gegen das andere ausspielen zu lassen, weil ich davon wenig halte. Auch die Bundestheater und Bundesmuseen tragen sehr viel dazu bei, wie Kunst sich entfalten kann, gerade im Bereich der zeitgenössischen Kunst und der Kunstvermittlung. Der freie Eintritt in die Bundesmuseen, die Programme mit den Schulen sind für mich ganz wichtige Elemente. Was mich erschreckt, sind Umfragen, wenn sie in Boulevardmedien publiziert werden, in denen gefragt wird, wo gespart werden soll. 70 Prozent der Befragten sagen "bei Kunst und Kultur". Das ist für mich ein Signal, dass wir im Bereich der Kunstvermittlung wirksamer werden müssen, weil offenbar bei sehr vielen Menschen Kultur als "Hochkultur" firmiert, also als Luxusprogramm für einige wenige.

Standard: Hat sich das gesellschaftliche Klima für Künstler verändert?

Schuh: Ich glaube, dass jemand, der den künstlerischen Beruf ergreift, weiß, dass er über den Abgrund geht. Das ist nicht angenehm, aber sozialisieren lässt sich das Risiko des Wunsches, Künstler zu sein, nicht. Man muss verschiedene Künste beherrschen, um den Wegfall eines Facharbeitergehalts zu kompensieren. Es gibt in der Kunstproduktion einen nahezu unerträglichen Widerspruch, der darin besteht, dass man radikal das sagen muss, was man zu sagen hat, dass man also sehr stark individualisiert arbeiten muss. Wenn aber diese Individualisierungen, dieser entschiedene Eigensinn, anderen Menschen nichts bedeutet, ist es hoffnungslos. Aber auch diese Hoffnungslosigkeit ist keine Garantie, sie hat ja furchtbare Irrtümer ermöglicht. Etwa den Irrtum Kafkas: Verbrennts mein Werk, es will eh keiner wissen, was drin steht. (Stefan Gmünder, Album, DER STANDARD, 10./11.2012)