Offener Brief an den ÖBB-Vorstand: Sehr geehrte Herren!

Nach einer Lesung in Wien will ich am 28. Mai '03 per Bahn zurückfahren, genau bis Attnang-Puchheim. Das Literarische Quartier Alte Schmiede, der Veranstalter, erledigt alles und übergibt mir a) 1 Ticket Wien Westbahnhof-Attnang-Puchheim für einen Erwachsenen, 2. Kl. plus b) 1 Reservierungsbestätigung lautend 01 Sitzplatz, Zug Nr. 640, Rollstuhl, Wagen 021, Platz, 016.

Des Weiteren wird angeboten ein Fahrdienst (Abholung vom Hotel, Hilfe, Tragen des Gepäcks, Begleiten zum Kartenschalter) und ein Servicedienst der ÖBB, man werde zum Zug gebracht, in den Wagon gehoben, zum Sitz geleitet, alles rollstuhlgerecht, auch die Toilette. Verdächtiges Subjekt?

Es läuft wie geplant, der Servicemann bringt mich zum Zug - der Wagen Nr. 021 ist nicht vorhanden, es gibt gar keinen rollstuhlgerechten Wagon, der reservierte Platz ist nicht da. So was kommt vor, wie der Servicemann, peinlich berührt, zugibt. Aber "Ich setz' Sie in den Großraumwagen". Man hievt mich per Hebebühne hinein, mit dem Rollstuhl ist im Mittelgang kein Durchkommen. "Na, bleiben S' da heraußen stehen", gemeint ist der Vorraum bei den Türen. Ich lehne ab. "Dann müassen S' später fahren." Ich lehne ab. "Na dann - warten S'." Es ist vier Minuten vor Abfahrt, man hebt mich wieder hinaus. Gerenne. "Ich bring' Sie in die 1. Klasse." Dort hinauf, hinein, es geht sich um Millimeter aus, man schiebt mich ins erste Coupé. "Können S' eh allein auf den Sitz?" Ich kann.

Der Zug fährt ab. Der Rollstuhl steht mitten im Abteil, der Rucksack hängt schwer erreichbar hinten. Der Schaffner kommt. Er mustert die Szenerie, mustert mich, studiert die Tickets, als ob es sich mindestens um Fälschungen handelte, und ich frage mich bereits, ob ich womöglich ein verdächtiges Subjekt (verkleideter Terrorist?) sein mag, ohne bis dato davon gewusst zu haben. Dann stempelt er doch, will gehen, ich frage, ob er kurz vor Attnang kommen und mir helfen könne. Antwort (wörtlich!): "Naa, da muaß i mi vielleicht um Behinderte kümmern, oder Blinde."

Bevor ich lachen kann, ist er weg. Er kommt auch nie mehr zurück. Nicht dass er mir abgegangen wäre, aber zweimal hätte ich Hilfe gebraucht, und es gab keinerlei Möglichkeit, aus dem Abteil zu gelangen und jemanden zu fragen. Ich überlegte, die Generaldirektion der ÖBB anzurufen und zu sagen, ich säße im Zug Nr. 640, könne nicht gehen, kriegte den Rollstuhl nicht auf den Gang und erreichte den Schaffner nicht, man möge ihn doch, bitte, zu mir schicken. Es wäre wie im Hotel gewesen, und das schöne Wort Nomen est omen hätte sich bewahrheitet, denn der Name des Zuges lautete - kein Scherz! - Hotel Ibis. Ed Fagan fragen?

Erfreulicherweise kam dann aber der Buffetwagen, geschoben von einem jungen Mann, der mir nicht nur einmal half, sondern die folgenden zweieinhalb Stunden immer wieder vorbeischaute, um zu fragen, ob er mir helfen könne - wohlgemerkt, ich hatte nichts bei ihm gekauft. Kurz vor Attnang war er wieder da, nahm die Reisetasche, meinte, das würde schon alles gut gehen, brachte den Rollstuhl um die schwierige Kurve zum Ausstieg, hievte mich auf die Hebebühne und reichte die Reisetasche nach. Der Schaffner stand währenddessen auf dem Perron und schaute zu. Offenbar war nun doch kein Behinderter oder Blinder in der Nähe.

Die Buffetwagen gehören übrigens, so höre ich, nicht zur ÖBB, doch wäre es höchst unhöflich zu sagen: Das merkt man. Nun ringe ich schwer mit mir selbst, ob nicht doch Ed Fagan mit einer Schadensersatzklage (Ticket 29.50 Euro, Reservierung 3,40) zu beauftragen wäre, ganz zu schweigen vom Schmerzensgeld (Höhe bestimmt der Anwalt, da mach' ich mir keine Sorgen). Fast hätte ich vergessen: Rollstuhlgerechte Toilette gab es nicht, es ist daher ratsam, die Inkontinenzausrüstung vorsorglich anzulegen, falls man weiter als bis Attnang-Puchheim zu fahren beabsichtigt.

Ein Plus allerdings: Der morbide Charme des abgenutzten 1.-Klasse-Wagons im Hotel Ibis hat schon seinen eigenen Reiz und gibt einem das wohlige Gefühl, vor vierzig Jahren im damaligen Ostblock unterwegs zu sein. Das wäre vielleicht überhaupt eine Idee, um die maroden Finanzen der ÖBB zu sanieren und die verkommenen Wagen Gewinn bringend zu nutzen, etwa: Nostalgiefahrten! Kos-ten Sie das DDR-Gefühl mit den ÖBB! Transsibirisch light: Mit den ÖBB im Winter nach Gmünd! Aber ich reklamiere das Urheberrecht für diesen Geistesblitz, falls die Anregung aufgegriffen wird. Oder einen Posten als PR-Beauftragte bei den ÖBB. Sonst kommt Ed Fagan.

Mit freundlichen Grüßen Marie Laurenti Autorin, lebt in Gmunden (DER STANDARD Printausgabe14/15.2003