Es gab Zeiten, da hat der ÖGB einfach seine Forderungen kundgemacht - und sich dann in diskrete Beratungen an grüne oder runde Tische zurückgezogen. Dort gab’s Kaffee und Brötchen für die Teilnehmer, einen für alle verdaubaren Kompromiss - und anschließend Beruhigungspillen für die Betroffenen: Wir haben ja eh viel für euch herausgeholt!

Dieses Schema hat schon in den letzten Jahren der rot- schwarzen Koalition immer schlechter funktioniert; seit 2000 kann man es bestenfalls bei Gehaltsverhandlungen einsetzen. Damit aber die Basis nicht allzu enttäuscht über den schleichenden Machtverlust ist, haben sich die Funktionäre angewöhnt, Forderungen immer lauter zu stellen. Und den Mitgliedern Erfolgsversprechen dafür zu geben, dass sie sich engagieren.

Diese Rückkoppelung hat auch ohne die Streiks der letzten Wochen eine Alles-oder-nichts-Stimmung an der Basis geschaffen - in manchen Bereichen, etwa bei den Lehrern, treiben aufgebrachte Mitglieder längst die Funktionäre vor sich her. Die Basis lässt sich nicht mehr mit Kompromissen abspeisen.

Mehr als Kompromisse sind aber nicht drin. Das hat auch Fritz Neugebauer erkannt: Mit Geduld und Beharrlichkeit hat er einige Änderungen der Pensionsreform erstritten. Sie zu kippen wäre unrealistisch gewesen - aber ein bisschen etwas hat Neugebauer doch bewegt. Vor gar nicht langer Zeit hätte ihm seine gewerkschaftliche Verhandlungskunst höchstes Lob der eigenen schwarzen und zumindest professionellen Respekt der roten Fraktion eingetragen. Nun aber muss er sich des Verrats bezichtigen lassen - weil eine Mehrheit im ÖGB (vom Präsidenten bis hinunter zu den "kleinen" Mitgliedern) den Glauben an Kompromisse verloren hat. Bei der anstehenden Pensionsharmonisierung wird der ÖGB ihn wiederfinden müssen. (Conrad Seidl/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.6.2003)