Waffenverbot im öffentlichen Park: Nach Einbruch der Dunkelheit geht auch in vielen ländlichen Regionen keiner gern raus.

Foto: Kainrath

"Hier wollen wir ein Leben ohne Gewalt gegen Frauen."

Foto: Kainrath

Radiostation in Tacuba.

Foto: Kainrath
Foto: Kainrath

Agnes Romero setzt mit Einbruch der Dunkelheit keinen Schritt auf die staubige Straße. Friedlich ruht das Dorf El Delirio in der Mittagshitze. Kinder schaukeln in Hängematten, auf den offenen Feuerstellen köchelt Wasser, Schweine und Hühner teilen sich die Vorgärten. In der Nacht geht jedoch die Angst um. Ein Dutzend gewalttätige Jugendliche haben den kleinen Ort in El Salvador im Griff, sagt Romero, die sich hier nach dem Bürgerkrieg vor zwanzig Jahren als Bäuerin ein neues Leben aufbaute.

Kein Laster mit Lebensmitteln fährt die ansässigen Greißler mehr an, seitdem es laufend zu bewaffneten Überfällen kam. Vor wenigen Wochen sei die Nachbarstochter entführt und vergewaltigt worden. "Zeugen gibt es nie." Wer etwas sieht, riskiert sein Leben, fährt Romero unter Nicken ihres Mannes fort. Die Polizei habe die Verdächtigten bald wieder frei gelassen.

"Es fehlt der Zusammenhalt im Dorf, um sich vor den Banden zu schützen, die aus der Hauptstadt ins Umland expandieren." Aus allen Teilen El Salvadors zusammengewürfelt leben hier gut 150 Familien. Den Flecken Grund wieder aufzugeben, um in sicherere Gegenden zu ziehen, könne sich keiner leisten.

Flucht quer durchs Land

Oft genüge ein Verwandter in den USA, eine fixe Arbeit oder ein Auto, um Schutzgeld bezahlen zu müssen, erzählt eine Ordensfrau, die an einer Universität in San Salvador lehrt. "Um der Geiselhaft zu entkommen, flüchten ganze Familien von einem Eck des Landes ins andere." Ein Leben sei hier wenig wert, und die Solidarisierung aus Angst, das nächste Opfer, zu sein, gering - auch wenn viele Betroffene die Täter kannten.

Nach zwölf Jahren Bürgerkrieg mit 80.000 Toten unterzeichneten die frühere ultrarechte Regierung und die ehemalige Guerillaorganisation FMLN 1992 den Friedensvertrag. Geblieben ist ein sozialer Krieg, der mittlerweile mehr Opfer kostet. El Salvador zählt mit 66 Morden je 100.000 Einwohner im Jahr laut UNO neben Honduras zu den weltweit gewalttätigsten Ländern. Vergleichsweise 0,8 sind es in Österreich. Allein 2011 starben 4300 Menschen eines gewaltsamen Todes. Die Mordrate an Frauen verdreifachte sich seit 2002. Rund 95 Prozent der Verbrechen bleiben unaufgeklärt.

25 Jahre Lebenserwartung

Die 60.000 Heranwachsenden, die den Maras, den Jugendbanden zuliefen, werden im Schnitt nicht älter als 25. Wer einmal drinnen ist, kommt nicht mehr raus, berichten Sozialarbeiter. Die Jungen hielten als Täter für mehr Verbrechen her, als sie tatsächlich begingen. In Polizei und Politik sei Korruption weit verbreitet.

Drogen- und Menschenhandel bestimmten ihr Land, und die Jungen seien die Handlanger des organisierten Verbrechens, sagt Morena Herrera. Sie kämpfte einst in El Salvador in der Guerilla, wirkte beim Friedensvertrag mit und war Parlamentsabgeordnete. Heute setzt sie sich für Frauenrechte in Zentralamerika ein.

"Hier wollen wir ein Leben ohne Gewalt gegen Frauen", steht auf Laternenpfeilern und bunt bemalten Häusern ihrer Heimatstadt Suchitoto geschrieben. Pflastersteine säumen die Gässchen, in einem der blumenumrankten Innenhöfe hat sich eine Frauengruppe mit alten Nähmaschinen eine Schneiderei aufgebaut. Die Idylle trügt.

Herrera erzählt von der steigenden Zahl an Waffen in der Bevölkerung, von einer sozialen Kluft, die immer weiter aufgehe und der Politik, die mit Militarisierung reagiere. Panzer würden gekauft für den Kampf gegen die Maras. Und die Linksregierung unter Mauricio Funes bestellte 2011 einen Ex-Militär zum Innenminister, was seit dem Friedensschluss tabu war.

Zu glauben, die Gewalt damit zu stoppen, sei Illusion, sagt Herrera. An der wirtschaftlichen Ungleichverteilung habe sich seit 20 Jahren nichts geändert. Grund und Besitz seien in Hand weniger. In kaum einem anderen Land zahlten Unternehmen und Reiche weniger Steuern. Und für Junge gebe es weder Jobs noch Perspektiven. Jeder dritte Salvadorianer lebt im Ausland. "Die starke Emigration in die USA lässt unser Land ausbluten."

Illegale Flucht ins Ausland

Das Risiko, das illegale Wanderarbeiter eingehen, sei enorm, vor allem für Frauen. Der Preis, den sie für die Flucht in die USA zahlten, sei nicht nur für die Schlepper höher. Viele ließen sich vorab Verhütungsinjektionen verabreichen. "Sie wissen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit vergewaltigt werden, und sie gehen trotzdem." 

In El Salvador gebe es seit zwei Jahren Gesetze gegen die Gewalt gegen Frauen, Verbesserungen jedoch erst, wenn Polizei und Richter ihnen auch Gehör schenkten. Bisher liefen hier viele gegen eine Mauer, ist Herrera überzeugt.

Am 11. März werden in El Salvador Bürgermeister und Parlamentsabgeordneten gewählt. Die vom Kampf gegen die Gewalt geprägten Wahlen gelten als Stimmungstest für den früheren Journalisten Funes von der FMLN, der 2009 Präsident wurde. Zwei Jahre dauert seine Amtszeit noch. Miguel Ventura erwartet keine großen Machtverschiebungen. Doch Fortschritte bei der Verminderung von Armut und Kriminalität erkennt der Gouverneur von Morazán keine, eher politisches Chaos. "Was hier derzeit passiert, ist nichts anderes als Schadensbegrenzung, das sind nur Notfallpläne."

Sein schlichtes Büro zieren Bilder von Che Guevara, ein Loch in der Decke gibt den Blick aufs Dach frei. Ventura erinnert an die Massaker während des Kriegs an der Bevölkerung. Vor Gericht zur Verantwortung gezogen wurde nach einer Generalamnestie kein einziger. "Die Wunde ist offen. Die Opfer hatten niemals eine Stimme." Diese Kultur der Straffreiheit setze sich seither auf allen Ebenen fort.

Justiz schützt nicht

"Das Justizsystem ist in der Krise, es schützt nicht die Bevölkerung, sondern öffnet Tür und Tor für Kriminalität." Zu viele Zeugen seien schon ermordet worden, die Leute hätten Angst vor Repressalien, Angst davor, bei einem Richter an den falschen zu geraten.

Diego Santos sieht El Salvador dennoch im Aufbruch. Der gebürtige Spanier engagiert sich seit 30 Jahren für Entwicklungsarbeit in Zentralamerika. In El Salvador betreut er für "Horizont3000" Projekte, die lokale Einkommen der Bevölkerung stärken, Frauen unterstützen und Jungen einen Grund geben, nicht auszuwandern. Österreich hat die finanziellen Mittel, die für El Salvador bereit stehen, jedoch massiv reduziert. Und den Entwicklungsorganisationen geht der Nachwuchs aus.

"Die Menschen hier verlieren keine Zeit mit Jammern", sagt Santos. Mit viel Unternehmergeist werde die Hilfe zur Selbsthilfe der Non-Profit-Organisation angenommen. Als Tagelöhnerin habe sie einst gearbeitet, erzählt Esperanza Peréz. Nun züchtet sie nahe Nahuizalco Hühner, mit denen sie Billigimporten aus den USA die Stirn bietet. Luzilla hat im Krieg fünf ihrer sechs Söhne verloren. Von Horizont3000 mitfinanzierte Schafe und Schweine helfen ihr, das tägliche Leben zu bestreiten. Estanislao Amayo verschreibt sich in Perquin erfolgreich dem Biolandbau. Und in den Wäldern rund um Tacuba macht eine Gruppe Jugendlicher täglich mehrere Stunden Radio. Aus Lautsprechern schallen ihre Reportagen und Musik in die Dörfer. Die Gewaltrate in der Region ist gesunken.

"Wir bleiben nicht stehen und resignieren", sagt die frühere Guerilla Herrera. "Die Menschen hier lassen sich nicht unterkriegen. Und ich will Teil der Veränderung sein." (DER STANDARD, Printausgabe, 8.3.2012)