Mit 75 führt Gottfried Schatz Chemie-Experimente in Kindergärten vor, um zu zeigen, dass Wissenschaft Spaß macht.

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STANDARD: Sie haben in Österreich in den 1950er-Jahren studiert und hier Ihre ersten Entdeckungen gemacht. Zu einem weltweit führenden Biochemiker wurden Sie aber in den USA und dann ab 1974 in der Schweiz. Was ist in der Schweiz - wissenschaftlich betrachtet - besser als in Österreich?

Schatz: Die Schweiz ist wissenschaftlich „erwachsener" als Österreich. Wissenschaft war ihr immer schon ein wichtiges Anliegen - leider im Gegensatz zu meinem Heimatland. Dazu kommt, dass die Schweiz meist pragmatisch und international denkt und handelt. Es hat hier eine lange Tradition, die besten Wissenschaftler aus der ganzen Welt ins Land zu holen, selbst dann, wenn sie nur schlecht oder gar nicht Deutsch oder Französisch sprechen.

STANDARD: Sie brachten es in der Schweiz auch zum Präsidenten des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats und waren damit zwischen 2000 und 2004 quasi der oberste Wissenschaftler der Schweiz. War das für die Schweizer kein Problem?

Schatz: Nein, obwohl ich bis heute österreichische Staatsbürger bin. Die damalige Präsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss, sagte mir damals, dass meine Nationalität ihr gleichgültig sei. Diese Internationalität ist eine der großen Stärken der Schweiz. Sie erinnert an den Pragmatismus von Kaufleuten, während Deutschland und Österreich eher einer Beamtenmentalität huldigen.

STANDARD: Liegt es forschungspolitisch vor allem an diesem Mentalitätsunterschied, dass die Schweiz nach allen Indikatoren wissenschaftlich besser dasteht? Oder hat das auch konkrete forschungspolitische Gründe?

Schatz: Beides ist wichtig. Im Vergleich zu Österreich fördert in der Schweiz die öffentliche Hand Grundlagenforschung viel stärker als die angewandte Forschung - weil man erkannt hat, dass Grundlagenforschung den Boden für die Technologie von morgen bestellt. Wer allzu sehr auf angewandte Forschung setzt, wird bald nichts mehr anzuwenden haben. Dazu kommt das politische Dogma, dass der Staat sich aus der Privatindustrie heraushalten und sie nicht subventionieren soll. Dieses Prinzip wurde in den letzten Jahren zwar mehrere Male verletzt - siehe Swissair oder UBS - aber meist hält sich der Staat daran, wie bei der vergleichsweise geringen Förderung der Industrieforschung.

STANDARD: In der Schweiz scheint man auch Technologien wie der Gentechnik nicht ganz so feindlich gegenüberzustehen.

Schatz: Dies ist leider nur bedingt richtig. Eine der größten und am besten organisierten Proteste gegen Gentechnik - die sogenannte „Genschutz-Initiative" von 1988 - hatte ihren Ursprung in Basel, wo ich damals Professor war. Ihre Anhänger wollten sogar die Genmanipulation an Hefezellen oder Bakterien verbieten - was das Ende fast aller modernen Medikamente bedeutet hätte. In der Schweiz trafen also Befürworter und Gegner der Gentechnik also knallhart aufeinander.

STANDARD: Die Gentechnik-Gegner haben sich damals aber nicht durchgesetzt. Warum?

Schatz:: Einerseits weil auch wir Wissenschaftler uns organisierten, als Gruppe auf die Straße gingen und in vielen Veranstaltungen der Bevölkerung die Chancen und Risiken der Gentechnik erklärten. Die Initiative wurde mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt, wobei wohl auch der bereits erwähnte Schweizer Pragmatismus eine Rolle spielte.

STANDARD: Skepsis gegenüber neuen Technologien scheint heute in ganz Europa recht ausgeprägt zu sein. Das konstatierte zuletzt auch die neue Wissenschaftsberaterin der EU, die Biologin Anne Glover. Sehen Sie das auch so?

Schatz: Leider ja. Und ich halte diese Fortschrittangst, die kennzeichnend für die Nullrisiko-Mentalität einer überalterten Gesellschaft ist, für eine große Bedrohung unserer europäischen Kultur und des Wohlstands unserer Kinder und Enkelkinder.

STANDARD: Was kann man dagegen tun? Das, was man auf Englisch Public Understanding of Science nennt, also eine bessere wissenschaftliche Allgemeinbildung?

Schatz: So sehr dies aus vielen Gründen wünschenswert wäre - es würde Europas Scheu vor Neuerung nicht heilen. Viele der entschiedensten Gegner der neuen Technologien sind ausgebildete Biologen oder Ingenieure. Das Unbehagen der Gesellschaft sitzt tiefer und könnte am besten durch eine glaubhafte und charismatische Forscherpersönlichkeit besänftigt werden, die als „Stimme der Wissenschaft" agiert. Diese Rolle können weder Zeitschriften noch Institutionen, sondern nur einzelne Menschen übernehmen, denen die Öffentlichkeit vertraut. Solche Persönlichkeiten sind jedoch sehr selten. Dazu kommt, dass viele Wissenschaftler es unter ihrer Würde finden, vor die Öffentlichkeit zu treten und „sich ins Rampenlicht zu drängen". Wir Wissenschaftler sollten nicht vergessen, welch ungeheuren positiven Einfluss der Apple-Gründer Steve Jobs auf die Akzeptanz von Wissenschaft und neuen Technologien ausübte. Europa bräuchte mehr von solchen Persönlichkeiten.

STANDARD: Apropos USA: Sie schwärmen in Ihrem Buch aber auch von den Arbeitsbedingungen an den führenden US-Universitäten im Vergleich zu jenen in Europa. Was macht man hier schlechter?

Schatz: Die meisten europäischen Universitäten zählen heute zu den konservativsten Institutionen unserer Gesellschaft. Sie sollten aber zu den revolutionärsten gehören, denn Wissenschaft ist eine unverbesserliche Revolutionärin, die dauernd Vertrautes in Frage stellt und Neues schafft. Viele Universitäten Europas sind nicht mehr die besten Orte für Innovation, weil sie an starren Hierarchien und veralteten Strukturen festhalten - wie permanente Assistentenstellen oder Habilitationen mit all ihren persönlichen Abhängigkeiten. Dazu akzeptieren sie - trotz teilweise fortschrittlicher Universitätsgesetze - immer noch ein Übermaß an zentraler Steuerung und Administration. Wenn ich unseren Universitäten etwas ins Stammbuch schreiben dürfte, wäre es die Warnung „Organisation ist der Feind von Innovation und Koordination der Feind von Motivation".

STANDARD: Wie kann man diese Ihrer Meinung nach verkrusteten Strukturen aufbrechen?

Schatz: Das Humboldtsche Ideal der Gelehrtenrepublik hat heute ausgedient, weil die politischen, administrativen und finanziellen Anforderungen an eine Universität zu komplex und zu groß geworden sind. Universitäten sollten heute autonom von starken Persönlichkeiten geführt werden, welche die Möglichkeiten des Universitätsgesetzes voll ausschöpfen und sich auf langfristige Budget- und Anstellungsverträge stützen können. Jede Universität sollte ihr eigenes Profil definieren können, solange es nur die gesetzlichen Mindestanforderungen an die Ausbildung erfüllt. Sie sollte außerdem möglichst flache Hierarchien anstreben. Dies bedeutet konkret, dass sie den wissenschaftlichen Nachwuchs nach strengen Maßstäben international rekrutiert und ihm volle wissenschaftliche Unabhängigkeit sowie Zeitverträge anbietet, die bei entsprechender Leistung in permanente Professuren umgewandelt werden, bei Nichtgenügen jedoch die Entlassung bedingen. Dieses „up or out" Prinzip klingt zwar hart, ist aber transparent und fair und hat wesentlich zur hohen Qualität der amerikanischen Spitzenuniversitäten beigetragen.

STANDARD: Was hindert die Universitäten daran, genau das umzusetzen?

Schatz: Eine Hürde ist der Machtanspruch der Professoren, den ich als externer Berater österreichischer und deutscher Universitäten mehrmals hautnah erlebte. Die Abschaffung der Habilitationen würde den Einfluss eines einzelnen Professors deutlich verringern und dies gilt auch für die Schaffung von Graduiertenprogrammen, bei denen die Doktoranden zunächst von einem Kollegium ausgewählt werden und erst dann ihre „Doktormutter" oder ihren „Doktorvater" wählen. Dies führt zu einer gesunden Konkurrenz unter den Professoren, die natürlich nicht allen willkommen ist. Eine weitere Hürde sind in Frankreich und Österreich die Gewerkschaften, die bei einer Reform der Karrierestrukturen und der Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses allzu viel mitzureden haben.

STANDARD: Dennoch konnte sich dank Ihrer Mithilfe auch in Österreich so etwas wie das Vienna Biocenter und ein kleines Exzellenzcluster in diesem Bereich entwickeln. Sie waren an der Gründung des Institute of Molecular Pathology, des berühmten IMP, mitbeteiligt und haben zusammen mit einem britischen Kollegen auch die Statuten des Vienna Biocenter ausgearbeitet.

Schatz: Daran erinnere ich mich noch sehr gerne. Das Biocenter bewies, dass Österreichs Talente schnell aufblühen, wenn man ihnen eine Chance gibt. Diese beiden Erfolgsmodelle zeigen, dass Wien ein attraktiver Wissenschaftsstandort sein kann, wenn nur die Bedingungen stimmen. Forscher haben ja, im Gegensatz zur landläufigen Meinung, meist noch viele kulturelle Interessen, denen Wien in idealer Weise entgegenkommt. Mit dem IMP wollte man ein nicht zu großes Institut mit rigorosem Qualitätsanspruch und internationaler Ausrichtung schaffen. Und bei der Neugestaltung des Vienna Biocenter kam es im darauf an, einem bereits bestehenden Institut moderne und international bewährte Strukturen zu geben. In beiden Fällen spielte die Unterstützung der Wiener Universität eine wichtige Rolle.

STANDARD: Es gibt nun mit dem IST Austria einen weiteren Versuch, ein Exzellenzzentrum zu gründen, das für die nächsten knapp 15 Jahre jedenfalls sehr großzügig finanziert ist. Wie beurteilen Sie diese Mittelvergabe?

Schatz: Die Zuweisung von einer Milliarde Euro an das IST Austria ist kein optimaler Einsatz öffentlicher Gelder - gerade auch im Vergleich zum Budget des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), der nicht nur tadellos gearbeitet und den Respekt der Wissenschaftler gewonnen hat, sondern auch anderen europäischen Ländern als Vorbild diente. Leider war dieser Fonds im Vergleich zu ähnlichen Institutionen in Deutschland, der Schweiz oder Schweden stets massiv unterfinanziert, was Österreichs Forschung sehr behindert hat. Auch das Vienna Biocenter ist im internationalen Vergleich unterdotiert. Die österreichische Wissenschaftspolitik will dies offenbar nicht wahrhaben und drängt damit unser Land noch weiter ins wissenschaftliche Abseits.

STANDARD:Kommen wir abschließend von Niederösterreich noch einmal auf die globale Ebene. Welche Länder und Kontinente werden in Zukunft wissenschaftlich den Ton angeben?

Schatz: Bei China - weniger bei Indien - ist das wissenschaftliche Potenzial enorm. Wenn die Entwicklung so weitergeht, werden die USA ihre derzeitige Führungsrolle wohl mit China teilen müssen. Dies setzt allerdings voraus, dass China sich politisch emanzipiert, denn Spitzenwissenschaftler wollen meist nicht in einem totalitären System leben und arbeiten. Zudem müsste sich das hierarchische Denken in der chinesischen Gesellschaft ändern, denn Wissenschaft lebt vom kreativen Widerspruch und gedeiht am besten in einem „kontrollierten Chaos", das ich mir im heutigen China nicht vorstellen kann. Aus diesem Grund hat auch Japan sein enormes wissenschaftliches Potenzial nie voll ausschöpfen können.

STANDARD: Warum ist das hierarchische Denken so ein Problem?

Schatz: Solange ein Student einem Professor in einer wissenschaftlichen Diskussion nicht widersprechen darf, kann sich Wissenschaft nicht frei entfalten, denn bei ihr ist die Unbekümmertheit der Jugend oft klüger als die Weisheit des Alters. Deswegen konnten auch die Nobelpreisträger, die Südkorea sich ins Land holte, dort nicht viel ausrichten. Und auch Singapur, das die Biowissenschaften so großzügig fördert, wird seine angestrebte Führungsrolle wohl erst dann erreichen, wenn es bereit ist, sein immer noch autoritäres System zu lockern.

STANDARD: Welche Rolle bleibt Europa?

Schatz: Das heutige Europa ist für mich der lebenswerteste Ort auf diesem Planeten und hätte jetzt - trotz Finanzkrise - die einmalige Chance, in der Wissenschaft die weltweite Führung zu übernehmen. Die USA kämpfen mit gewaltigen strukturellen, politischen und sozialen Problemen und China ist noch im Kommen. Ein wichtiger Schritt war zweifellos die Gründung des European Research Council, das Forschungsgelder allein nach wissenschaftlichen Maßstäben vergibt und die ineffizienten EU-Rahmenprogramme teilweise ersetzt. Was Europa jedoch fehlt, ist Mut. Den findet man heute eher in den USA oder in Asien.

STANDARD: Wie könnte man in Europa wieder mutiger werden?

Schatz: Durch das Vorbild mutiger Menschen. Unsere Kinder müssen solchen persönlichen Rollenmodellen schon früh begegnen, um ihnen dann nachzueifern und sie unbewusst als Leitbild für ihr eigenes Leben zu wählen. Mut zum eigenen Denken und zum kreativen Widerspruch sollte das höchste Ziel jeder Bildungseinrichtung sein - vom Kindergarten bis hin zur Universität.

STANDARD: Das sagt sich leicht. Wie lässt sich das verwirklichen?

Schatz: Zunächst durch die regelmäßige und offene Diskussion am Familientisch. Wo Kinder beim Essen schweigen müssen, verlässt die Wissenschaft den Tisch. Da unsere eigenen Kinder schon lange aus dem Haus sind, führe ich in Kindergärten drei- bis sechsjährigen Kindern einfache chemische Experimente vor, um ihnen zu zeigen, dass Wissenschaft „cool" ist und Spaß macht. In den USA, wo unsere Kinder für einige Jahre die Schule besuchten, gelingt dies viel besser. Dort lernt man zwar in der Schule weniger als in Europa, verlernt aber die Freude am Lernen nicht und wird im eigenen Denken und im Mutig-Sein bestärkt. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 7. 3. 2012)