Vor 30 Jahren galt Canis lupus, so der wissenschaftliche Name des Wolfs, in den Alpen als ausgerottet - das Ergebnis einer gnadenlosen jahrhundertelangen Verfolgung. In den unwegsamen Bereichen der Apenninen schafften es einige Rudel zu überleben.

Foto: Francesca Marucco

Mattia Colombo freut sich. Vor seinen Füßen liegt etwas Braungraues, Unappetitliches. Ein Hundehaufen? Nein, Wolfskot. Und das nicht zum ersten Mal heute. Schon 14 solcher Losungen hat Colombo an diesem Wintertag eingesammelt - außergewöhnlich viel. Offenbar sind hier am Monte Vaccia in den italienischen Westalpen gleich mehrere Exemplare unterwegs. Doch das wusste der Biologe bereits. Er arbeitet für das Progetto Lupo Regione Piemonte und überwacht die Entwicklung der Wolfspopulationen in den Bergen der Provinz Cuneo. Keine leichte Arbeit. Die Tiere durchstreifen das gesamte unwegsame Gelände. Wer ihre Spuren finden will, muss steile Hänge hinaufsteigen und Tiefschneefelder überqueren. "Aber das hält fit", meint Colombo lachend.

Präzise Volkszählungen

Das Kotsammeln dient der Wissenschaft. Eine frische, noch glänzende Wolfslosung, ist für den Experten besonders wertvoll. "Da ist viel Schleim drin, und der steckt voll mit DNA", erklärt er. Mit etwas Glück lässt sich dadurch der Urheber eines Haufens im Labor genetisch identifizieren. Das wiederum ermöglicht Colombo und seinen Kollegen, erstaunlich präzise Wolfsvolkszählungen durchzuführen. Dank dieser Methode konnten die Biologen feststellen, dass allein schon im Zeitraum zwischen 1999 bis Ende 2005 die Zahl der Alpenwölfe um mehr als das Doppelte anwuchs (vgl.: "Journal of Applied Ecology", Bd. 46, S. 1003).

Die Zahlen überraschen: 33 Wolfsrudel leben heutzutage wieder in den Westalpen zwischen Ligurien und dem Mont Blanc, etwa gleichmäßig verteilt auf italienischem und französischem Staatsgebiet. Jedes Rudel besteht im Schnitt aus vier bis fünf Tieren. Die Gesamtpopulation dürfte demnach weit über 100 Wölfe zählen. Eine erstaunliche Entwicklung, denn noch vor 30 Jahren galt Canis lupus, so der wissenschaftliche Name des Wolfs, in den Alpen als ausgerottet - das Ergebnis einer gnadenlosen jahrhundertelangen Verfolgung. In Mittel- und Süditalien, in den unweg samen Bereichen der Apenninen, schafften es allerdings einige Rudel zu überleben. Von dort aus gingen in den 1980er-Jahren die ersten Wölfe auf Wanderschaft, gen Nordwesten. Sie trafen offenbar auf gute Lebensbedingungen. Im Winter 1993/94 fanden Wissenschafter im Schutzgebiet Parco Naturale delle Alpi Marittime zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg Spuren eines Wolfsrudels. Isegrim war heimgekehrt.

Illegale Tötungen

Auch das Gebiet um den Monte Vaccia im Valle di Stura ist längst wieder fest in Wolfspfoten, berichtet Mattia Colombo. Das gefällt nicht jedem. Einige Jäger, Hirten und Bergbauern betrachten sie als Schädlinge. Immer wieder werden Wölfe illegal getötet. Wilderer erschießen sie oder legen Giftköder aus. Doch die Konflikte zwischen Mensch und Raubtier sind grundsätzlich lösbar, wie Francesca Marucco, Leiterin des Progetto Lupo Regione Piemonte, betont. Im Piemont gibt es ein umfassendes Maßnahmenpaket, um Viehherden vor Wölfen zu schützen. Viehhalter, die Tiere verlieren, werden komplett entschädigt.

Die Projektmitarbeiter verteilen seit einigen Jahren auch Hirtenhunde der Rasse Maremmano- Abruzzese sowie Pyrenäen-Berghunde, ein Erfolgsrezept. Mehr als 70 solcher kräftiger vierbeiniger Bewacher sind bereits im Einsatz. "Inzwischen züchten die Schäfer sie selbst und geben sie einander weiter", sagt Marucco. Ebenfalls im Angebot sind Elektrozäune, akustische Schrecksignale und Blitzlichter, erklärt die Expertin. "Wir versuchen, für jeden Schäfer einen individuellen Management-Plan zu erarbeiten. Alle Vorsorgemaßnahmen sind kostenlos", sagt sie. Zudem gibt es finanzielle Anreize für Viehhalter in Wolfsgebieten, die ihre Almen vorbildlich gegen karnivore Übergriffe absichern. Marucco: "Das funktioniert großartig."

Die positive Wirkung des Programms schlägt sich in der Sta tistik nieder. Trotz wachsender Wolfspopulation stagniert im Piemont seit der Jahrtausendwende die Anzahl der Angriffe auf Weidetiere. Pro Rudel gerechnet, nimmt die Häufigkeit der Attacken sogar ab, von mehr als 14 im Jahr 2000 bis derzeit etwa zehn jährlich, Tendenz sinkend.

Für Marucco steht fest, dass die Wölfe auf Dauer sogar den ganzen Alpenraum wiederbesiedeln werden. "Aber das wird viel Zeit brauchen", erklärt sie. Die Sterblichkeit der Tiere ist nämlich hoch. Durch die aus den Kotproben gewonnenen genetischen Fingerabdrücke können nicht nur aufgefundene Wolfskadaver oft identifiziert werden, es lassen sich auch Fortpflanzungsraten, Abwanderung und Mortalität statistisch ermitteln. Diesen Berechnungen zufolge kommen 76 Prozent des Wolfsnachwuchses in den Westalpen vorzeitig ums Leben. Mehr als ein Drittel davon falle dem Straßenverkehr zum Opfer, knapp die Hälfte Wilderern. "Die Begrenzung der Wolfsbestände findet weitgehend illegal statt", resümiert sie. Dennoch gelingt es den Tieren, sich weiter zu etablieren und auszubreiten. "Sie sind eben sehr zäh und anpassungsfähig", betont Colombo.

Märchen vom bösen Killer

Jäger behaupten immer wieder, Wölfe würden ganze Wildbestände auslöschen - ein Märchen. In 2300 Metern Höhe, auf der flachen Kuppe des Monte Vaccia, liegt an diesem Tag noch reichlich Schnee. Die Sonne scheint, der Ausblick auf die majestätische Bergwelt ist atemberaubend. Aber Colombo zeigt auf den Boden. Überall Tierspuren und Kot, von Rothirschen, Rehen, Gämsen und Hasen. An Wild herrscht hier offenbar kein Mangel. Das ist auch das Verdienst des hiesigen Jagdpächters, der sein Revier aus ökologischer Sicht sehr gut bewirtschafte, meint Colombo. Jagd und Wolf können also bestens koexistieren.

Leider zeigen sich die Wölfe heute nicht. Vielleicht machen sie gerade einen Ausflug über die Grenze nach Frankreich, sagt der Biologe. Schließlich kann ein Rudel sogar in dieser zerklüfteten Landschaft problemlos 20 Kilometer an einem Tag zurücklegen. Colombo selbst bekomme die Raubtiere auch nur selten zu Gesicht. Sie seien extrem scheu, betont er. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 7. 3. 2012)