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Die USS George Washington im chinesischen Meer: Die Vormachtstellung der USA ist erschüttert, trotz Militärpräsenz.

Foto: Reuters/Bobby Yip

Zbigniew Brzezinski versteht sich auf Anekdoten: Schildert er die kleinen Erlebnisse des Alltags, so wird markanter als in langen Vorträgen klar, was sich verändert hat seit 9/11: Es gibt keinen Büroklotz mehr ohne Sicherheitsschleuse; kein Gebäude, wo Besucher einfach so am Portier vorbei können. Manchmal nahm Brzezinski das Procedere auf die Schaufel, indem er sich als "Mr. Osama Bin Laden" ausgab. Nie, sagt er, sei er deswegen aufgehalten worden. Immer hieß es: " Bitte sehr, Sir, da hinten ist der Fahrstuhl." Natürlich muss er grinsen, wenn er diese kafkaeske Episode erzählt.

Der aus Warschau stammende Weltbürger, Sicherheitsberater unter Jimmy Carter, hat nicht aufgehört, sich Gedanken zu machen. Demnächst feiert er seinen 84. Geburtstag, und vor kurzem hat er ein kluges Buch geschrieben. Strategic Vision, der Versuch einer Prognose für den Rest des 21. Jahrhunderts. Als er es vorstellt, wird deutlich, was für ein messerscharfer Analytiker er noch immer ist: einer, der Krisenszenarien bis zum Ende durchspielt. Es scheint ihm auf die Nerven zu gehen, wie leichtfertig manche schon wieder von Krieg reden.

Orientierung an Saudi-Arabien und Türkei

Iran? Sollte Teheran mit seinen Atomplänen auf einen Konflikt zusteuern, "müsste man ja annehmen, dass die Iraner völlig den Verstand verloren hätten - das aber ist nicht charakteristisch für ein Land mit so langer Geschichte." Syrien? Brzezinski empfiehlt, sich an Saudi-Arabien und der Türkei zu orientieren: Falls die beiden regionalen Schwergewichte eine Intervention für notwendig halten, sollte Washington sie unterstützen. Wenn nicht, helfe nur fortgesetzter Druck auf Bashar al-Assad. Keinesfalls dürfe es einen amerikanischen Alleingang geben.

Im neuen Buch des Politikprofessors geht es um die Schnelligkeit, mit der sich die USA gewandelt haben. Noch vor zehn Jahren schien der Status der einzigen Supermacht, der Siegerin des Kalten Krieges, unangefochten. Heute reden alle vom unaufhaltsamen Niedergang. Brzezinski mag sie nicht, die simplen Zuspitzungen: Ein relativer Bedeutungsverlust der USA sei sowieso unvermeidbar, schon wegen China, Indien und Brasilien. Ob daraus ein Absturz werde, liege allein an den USA, ihrer Fähigkeit oder Unfähigkeit zu Reformen. Präzise skizziert Brzezinski die Baustellen: ausufernde Defizite, politische Blockade wegen des Parteienstreits in Washington, zunehmende soziale Ungleichheit und eine veraltete Infrastruktur.

Schwächen und Stärken

Brzezinski verzweifelt mitunter ob der Wissensdefizite junger Amerikaner: "63 Prozent können den Irak nicht auf der Landkarte finden. 30 Prozent wissen nicht, wie dieser große blaue Fleck heißt, den wir Pazifik nennen." Eklatanten Schwächen stellt er ureigene Stärken gegenüber. Reiche Ressourcen, eine stabile Demokratie, eine vorteilhafte Bevölkerungspyramide, innovative Unternehmer und Spitzenniveau im höheren Bildungsbereich. Sollten die USA ihre Strukturprobleme nicht lösen, "dann rutschen wir in eine sehr, sehr instabile Zukunft". In diesem Fall wäre das Land ab 2025 nicht mehr in der Lage, ordnend ins Weltgeschehen einzugreifen. Keine andere Macht könne die USA in ihrer Führungsrolle ersetzen, auch nicht China. Peking fehle trotz imposanten Wachstums sowohl Wille als auch Kapazität, sich breiter internationaler Verantwortung zu stellen, glaubt der Veteran. Vielmehr wäre ab 2025 mit einer Phase heftiger Turbulenzen zu rechnen. Die Kräftebalance zwischen alten und neuen Mächten verschiebe sich, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs errichtete Sicherheitsarchitektur falle nach und nach auseinander. "In einem Satz: Es würde keine chinesische Welt sein, sondern eine chaotische Welt." (DER STANDARD Printausgabe, 7.3.2012)