Eine Frankreich-Karte aus Plüschtierleichenteilen hat die Künstlerin Anette Messager für das LaMMuseum komponiert: Babyblaue Bärentatzen reiben darin auf. Senfgelbe Teddytorsi und hellrosa Häschennacken erzählen von Placebos und zerstückeltem Gefühl. Ergibt in Summe eine verhalten kuschelige Collage der Grande Nation - und einen pelzigen Publikumsmagneten eines wenig bekannten Kunstmuseums. Wo es sich genau befindet, kann man da nur ungefähr ersehen: Zwischen Leopardenöhrchen und Geckorücken vielleicht. Vor allem aber ganz im Norden, dort, wo auch herkömmliche Frankreich-Karten den flandrischen Landeinwärtsknick vom Atlantik zum französisch-belgischen Kohlerevier machen und wo sich die, mal in sattem Weidegrün, dann in verhaltenem Grau gepinselte Re- gion Nord-Pas-de-Calais erstreckt. Kein touristischer Frankreich-Renner, aber ein Landstrich mit Tiefgang - schon gar auf den zweiten Blick. Wer in Villeneuve-d'Ascq, einem eher mäßig inspirierenden Städtchen im Osten des Großraums Lille, vom Autobahnzubringer rollt, tut das denn auch keinesfalls spontan, sondern weil Kunstgenuss lockt: Picknick mit Picasso bietet das hier gelegene LaM-Museum, wozu ein hochkarätiger Skulpturenpark und bereitgestellte Brunch-Körbchen einladen. Weitere sinnliche Häppchen finden sich im jüngst erweiterten Gebäudekomplex selbst, der Werke aus gleich drei Kunstrichtungen bereithält: Modigliani und Miró, Fernand Léger, Georges Braque, Picasso und Paul Klee punkten da als Vertreter der klassischen Moderne - neben zeitgenössischen Arbeiten à la Messager sowie der weltweit vielleicht bestkuratierten Sammlung in Sachen Art brut. All das klingt auch ohne Brunch-Körbchen delikat. Aber das LaM ist mehr als bloß ein zu Unrecht übersehenes museales Highlight Frankreichs, das sich 1983 und durch die Laune regionaler Textilbarone in die nordfranzösischen Kohle-Pampas verirrt hatte. Eher taugt es als signifikanter Indikator zur Geschichte einer historisch dichten Region am Schnittpunkt von London, Brüssel und Paris, die ihre Identität aus zunächst merkantiler, später aus industrieller Vergangenheit bezieht. Fast möchte man sagen: Das Département Nord ist eine jener Gegenden, die alle Zutaten zu einem guten Krimi in dicken Schichten auf dem uralten Buckel trägt.
Da wären die Tuchhändler und Meisterweber der alten Tage, als Lille Welthauptstadt der Weberei, und die alte flandrische Börse von 1653 ihr führender Umschlagplatz war. Die berühmten Pariser Couturiers, die hier dicke Schwarten historischer Stoffmuster durchwühlten, ein aus Copyright-Gründen angelegtes 200.000 Exemplare umfassendes Paralleluniversum wollener Texturen - auch sie mögen Teil dieses Krimi-Plots sein. Und natürlich die vielen sagenhaft reichen Industriellen der Region, darunter so schillernde Figuren wie die Masurels, Hauptmäzene des LaM im Dunstkreis der Kubisten.
Vielleicht noch ein Prise Charles de Gaulle, der die berühmten Vanillewaffeln seiner Heimatstadt Lille bei Staatsempfängen bis in den Pariser Palais de l'Élysée nachschicken ließ? Voilà! Ergibt in Summe eine Geschichte, die mal aus feinem Tuch gewoben, dann mit kohleschwarzer Farbe weitergeschrieben wurde, die zwischendurch arg unter die Räder kam - und heute Kunst als Kickstart für die Zukunft ins Auge fasst.
Denn die museale Offensive des LaM stellt längst nur eine Facette neben anderen dar: Ende des Jahres wird die mit Spannung erwartete Eröffnung der Lens den Großraum Lille in die lichter stellen - ein 127 Millionen teurer Bau der japanischen Pritzkerpreisträger SANAA Architects, der im Zeichen der Dezentralisierung des französischen Kulturerbes in der Region Nord-Pas-de-Calais auf überaus fruchtbaren Boden fällt.
Den Louvre kopieren will dabei freilich keiner: Vielmehr sollen die fünf auf einem ehemaligem Zechengelände entstehenden Gebäude auf 17.000 Quadratmeter Gesamtfläche viel aus Glas komponierte Leichtigkeit verströmen - nicht zuletzt um die Kunstwerke in natürlichem Licht betrachten zu können.
An Kontinuität, sich als Kulturregion zu positionieren, mangelt es Frankreichs äußerstem Norden dabei kaum. Da war der Hype um Lille 2004, als die Stadt europäische Kulturhauptstadt war, was in diesem Fall einer bis heute wirksamen Initialzündung gleichkam.
Daran erinnern die im Dreijahresrhythmus verfolgten Megafestivitäten der Kulturinitiative lille3000 sowie noch ein weiteres Museum zeitgenössischer Kunst, nämlich das in der ehemaligen Bahnhofspost untergebrachte Tripostal. Daran erinnern auch diverse von Lilles roter Langzeitbürgermeisterin Martine Aubry mitgetragene kulturelle Aktivitäten, die museale Kulturkonzepte weniger als bürgerliches Schauregal mit angeschlossenem Museumsshop erfassen, sondern als gesellschaftlichen Kitt einer von hoher Arbeitslosigkeit und dem Niedergang des industriellen Erbes gebeutelten Region. Da wären etwa die zwölf Maisons Folie, die "Häuser für Verrücktheiten", die ganz bewusst in Gegenden mit eher schütterem kulturellem Substrat eröffnet wurden: Eine verwaiste Brauerei oder eine stillgelegte Textilspinnerei aus dem 19. Jahrhundert wurden dazu ausgewählt und beherbergen nun etwa einen Hamam, Räume für Events und Ausstellungen - alles mit dem erklärten Ziel, die Bevölkerung einzubinden, was im Falle eines weiteren Projekts, nämlich des von Künstlern gestalteten Hotel Europe auch Freiraum für Verliebte inkludiert - die Gratisschlüssel dazu gibt es via Internet.
Versäumen sollte man den Besuch eines Estaminet, des regionalen Gegenentwurfs zum Pariser Bistro, keineswegs, ebenso wenig wie den Stopover im Bergbaumuseum Lewarde, und im näher bei Lille gelegenen Roubaix. Hier mag das Finale unseres fiktiven Nord-Krimis spielen: Schweigende Textilspinnereien als ziegelrote Idealkulisse. Die schwarzen Flecken der aufgelassenen Terrils, wie die Kohlezechen hier heißen, nur wenige Fahrminuten weit entfernt. Und gleich ums Eck: ein mit Freimaurersymbolen geschmücktes Art-déco-Schwimmbad aus dem Jahr 1927, das einst für tuberkulöse Arbeiter errichtet wurde - bevor es in Dornröschenschlaf versank. Roubaix' "La Piscine" fungiert heute gleichfalls als Kunstmuseum. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Printausgabe/3.3.2012)