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Der neue Präsident am Cover eines russischen Magazins.

Foto: Reuters/Mikhail Voskresensky

Zur Person

Alexander Rahr, Osteuropaexperte und Politologe, ist Leiter des Berthold-Beitz-Zentrums - Kompetenzzentrum für Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. 2011 veröffentlichte er das Buch "Der kalte Freund. Warum wir Russland brauchen: Die Insider-Analyse".

Foto: Rahr

Wladimir Putin, ansonsten der eiserne Staatsmann, hat seinen Sieg bei der russischen Präsidentenwahl am Sonntag ungewohnt emotional gefeiert und auch eine Träne verdrückt. "Er war sich davor seines Sieges nicht sicher", erklärt sich Russland-Experte Alexander Rahr die Reaktion. Warum Putin sich jetzt trotzdem nicht ausruhen kann und die protestierende russische Mittelschicht links nicht links liegen lassen darf, erklärt Rahr im Interview mit derStandard.at.

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derStandard.at: In den westlichen Medien ist seit einem halben Jahr aufgrund von Protesten von einer Schwächung Putins und einem kritischen Wendepunkt in Russland die Rede. Hat Putin mit seinem Wahlsieg seine Kritiker Lügen gestraft?

Rahr: Der Westen ist im Falle Russlands ebenso einer falschen Vorstellung erlegen wie beim arabischen Frühling. Man hat einerseits gesehen, wie die neue Mittelschicht auf die Straße gegangen ist, auf der anderen Seite hat man aber vergessen, auf die große Masse der Russen zu schauen. Die Demonstrationen sind von jungen Menschen und dem Mittelstand initiiert worden, aber gewählt hat das alte Russland.

derStandard.at: Würden Sie sagen, dass die Proteste und ihr Einfluss in der Vergangenheit überbewertet wurden?

Rahr: Nein, überhaupt nicht, aber das neue Russland ist noch zu schwach und zu klein. Der Mittelstand macht vielleicht 20 Prozent der Bevölkerung aus und nicht 80, und nicht alle des Mittelstands sind gegen Putin. Zudem gibt es keine wirklichen Alternativen. 60 Prozent der Bevölkerung, also die, die ihn gewählt haben, denken noch traditionalistisch, haben schlechte Erfahrungen in den 90er Jahren gemacht und wollen Stabilität haben.

Diese Leute glauben den liberalen Ideen noch nicht. Sie sind auch sehr links gerichtet, wollen einen starken Sozialstaat haben und haben weiterhin nach 80 Jahren Kommunismus das Verlangen, dass der Staat alles für sie löst. Außerdem wollen sie Russland als eine Großmacht in der Weltpolitik erleben. Und das alles verspricht ihnen Putin. Teilweise hat er in den letzten zwölf Jahren dieses neue Russland wieder aufgerichtet, auf das andere Länder aufschauen, und das bringt ihm viele Pluspunkte. 

Die liberalen Demonstrationen haben in Russland auch eine Gegenwirkung erzielt. Das darf man nicht vergessen, obwohl das vielleicht für westliche Ohren ein bisschen fremd klingt. Es sind dieses Mal viele Leute zur Wahl gegangen, die ursprünglich nicht wählen wollten. Sie haben Putin unterstützt aus Zorn darüber, dass liberale Kräfte, die man mit dem Westen unter einer Decke stecken sieht, ihn attackiert haben. Nur deshalb sind sie zur Wahl gegangen.

derStandard.at: Putin kennt man sonst nur als harten, eisernen, sportlichen Führer. Warum diese Emotionalität bei seiner Rede am Sonntag? War das echt?

Rahr: Ich habe mit Leuten geredet, die ihn viel besser kennen als ich, und sie haben mir bestätigt, dass diese emotionalen Ausbrüche echt waren. Man hat seit Tagen gesehen, dass er sich seines Sieges nicht sicher war. Er hat fest darauf vertraut, dass die letzten Reserven innerhalb der Gesellschaft für ihn mobilisiert werden. In seinem Fall waren es Arbeiter und einfache Menschen, die ihm diesen eindeutigen Sieg beschert haben. Bedauerlicherweise zeigen aber diese Ausbrüche auch, dass Putin scheinbar mit einem Teil der russischen Intelligenzija keine gemeinsame Sprache mehr findet. Das muss sich ändern, denn ein Russland ohne den neuen Mittelstand regieren kann er nicht. 

derStandard.at: Die Beobachtungen über Wahlfälschungen weichen stark voneinander ab. NGOs berichten laufend davon, der österreichiche Bundesrat Stefan Schennach hingegen konnte bei seinem Einsatz für den Europarat keine Unregelmäßigkeiten feststellen, Putins Wahlkampfleiter spricht von der saubersten Wahl in der Geschichte Russlands. Was kann man glauben und machen die Wahlfälschungen überhaupt einen relevanten Prozentsatz aus? 

Rahr: Die Wahrheit liegt in der Mitte. Es sind natürlich nicht die freiesten und fairsten Wahlen der russischen Geschichte gewesen. Aber man kann auch nicht von so massiven Wahlfälschungen sprechen wie bei der vergangen Parlamentswahl oder Wahlen anderswo in der Welt. Es ist jedenfalls nicht massiv gefälscht worden. Sogar die radikalsten Opponenten Putins geben zu, dass er die Wahl im ersten Wahlgang gewonnen hat. Was den Prozentsatz an Fälschungen angeht, so geht es hier maximal um acht Prozent der Stimmen, ohne die er nichtsdestotrotz in der ersten Wahlrunde schon gewonnen hätte. 

derStandard.at: Medwedew will das Chodorkowski-Urteil überprüfen lassen. Warum ausgerechnet jetzt? 

Rahr: Weil Medwedew in die Geschichte eingehen will als ein Politiker, der auch etwas Liberales für das Land getan hat. Er will nicht ein Komma in der russischen Geschichte bleiben, er muss positive Spuren hinterlassen. Er glaubt, dass er das vielleicht mit einer Amnestierung von Chodorkowski noch schaffen kann. (Teresa Eder, derStandard.at, 5.3.2012)