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Symbolischer Konsum und imaginärer Hedonismus: Die gekauften Güter sind wie Theaterrequisiten zur Inszenierung unserer Fantasien.

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Christoph Deutschmann ist Professor emeritus am Institut für Soziologie (Arbeits- und Wirtschaftssoziologie) an der Universität Tübingen. Er hält am 5. März 2012 um 18 Uhr am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien) den Vortrag "Die Unersättlichkeit des Konsums: Kulturelle Modelle und Soziologische Erklärungen".

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Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise lebt auch die Kritik an den Wachstumsimperativen des Kapitalismus wieder auf. Mit ihrem unablässigen Streben nach mehr Wohlstand und Produktivität, wird argumentiert, zerstören moderne Gesellschaften nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern treiben sich selbst auch in eine progressive Verschuldung. Es sind keineswegs nur grüne Weltverbesserer, die die Wachstumsfixierung von Politik und Gesellschaft anprangern, sondern auch Konservative wie der deutsche Sozialwissenschafter Meinhard Miegel. Die fortgeschrittenen Industrieländer, stellt er fest, "hängen am Wirtschaftswachstum wie Alkoholiker an der Flasche oder Drogensüchtige an der Nadel. Stockt der Nachschub nur kurzzeitig, werden sie von Panikattacken befallen oder von existenziellen Ängsten geplagt. Bloß keine Unterbrechung des Gewohnten! Immer weiter und möglichst immer mehr – das muss einfach sein." Doch wie ist die hier behauptete "Sucht" näher zu beschreiben und zu erklären? Wer genau ist von ihr befallen, wer ist der Junkie? Für Miegel und andere ist die Antwort klar: Es ist der Konsument mit seiner Unersättlichkeit, seiner nie zu stillenden Begierde nach "Wohlstand", nach immer mehr, immer neuen Produkten und Dienstleistungen. Wenn wir die Krise überwinden wollen, müssen wir uns von dem Wachstumswahn befreien und lernen, wieder bescheidener zu leben. Statt Fernseh- oder Videokonsum oder Urlaub in der Karibik sollten wir selbst musizieren und die heimische Natur erwandern.

Gleichgültig, wie man zu dieser Botschaft steht – man würde sie gern erst einmal genauer verstehen wollen. Die Schwierigkeiten beginnen schon mit der unklaren Diagnose der Konsumsucht selbst. Konsumsucht wird von Miegel und anderen umstandslos mit dem Streben nach "materiellem Wohlstand" gleichgesetzt. Aber die rein materielle Bedürfnisbefriedigung kann gar nicht grenzenlos sein. Das weiß man schon aus eigener Erfahrung und ohne wirtschaftswissenschaftliches Studium: Schon das zweite Schnitzel schmeckt nicht mehr so gut wie das erste, und spätestens ab dem vierten hat man genug. Wenn an der These von der Unersättlichkeit der Konsumenten trotzdem etwas dran ist, dann, weil der Konsum eben nicht nur etwas rein "Materielles" ist, sondern auch eine symbolische und kulturelle Seite hat; die Konsumforscher sprechen von "symbolischem Konsum" oder "Erlebniskonsum". Über ihre materiellen Eigenschaften hinaus "bedeuten" Konsumgüter etwas; mit ihnen sendet der Konsument Signale an seine soziale Umwelt aus. Durch die Art, wie sie sich kleiden, wohnen, den Urlaub verbringen usw., möchten die Konsumenten sich selbst in einer bestimmten Weise darstellen und suchen rückwirkend nach Selbstbestätigung durch diese Inszenierungen. Anders als materielle Bedürfnisse scheint der Hunger nach solchen Inszenierungen in der Tat grenzenlos zu sein. Der Konsum bietet die Möglichkeit, mich nicht nur als derjenige darzustellen, der ich bin, sondern auch der ich sein möchte. Es ist bekannt, dass soziale Aufsteiger sich vorwegeilend mit den Insignien des angestrebten höheren Status ausstatten, nach dem Motto: mehr scheinen als sein, in der Hoffnung, dass der Schein sich in Realität verwandelt. Diejenigen, die schon oben sind, reagieren darauf, indem sie ihre alten Symbole aufgeben und neue Vorlieben entwickeln, durch die sie sich wieder von der Masse abheben können. Angetrieben durch die gegenläufigen Motive der Imitation einerseits, der Distinktion andererseits kommt so ein sich selbst nährender Mechanismus der Erzeugung immer neuer Konsummoden in Gang. Aber der Positionskonsum ist heute bei weitem nicht mehr die einzige Form symbolischen Konsums und vielleicht nicht einmal die wichtigste. Verbreiteter noch ist jene Form, den die Konsumsoziologie als Erlebniskonsum oder "imaginären Hedonismus" bezeichnet. Die Konsumenten hängen Tagträumen und Fantasien nach, zum Beispiel dem Traum romantischer Liebe, ewiger Jugendlichkeit, überlegener Kompetenz, unschlagbarer Dominanz oder dem Traum von einer guten, gerechten Welt. Diese Träume möchten sie in ihrem Konsumhandeln ausleben. Auch hier gilt, dass die Konsumenten nicht an den gekauften Gütern oder Dienstleistungen selbst interessiert sind; sie brauchen sie nur wie Theaterrequisiten zur Inszenierung ihrer Fantasien. Das bedeutet, dass jeder Kauf, der ja einen Schritt in die Realität bedeutet, in sich selbst schon den Keim zur Enttäuschung in sich birgt. Denn die Realität ist unvermeidlich weniger großartig als die den Kauf motivierenden Fantasien. Manche Konsumenten reagieren auf die Enttäuschung, indem sie die Inszenierung durch Anschaffung weiterer Güter zu vervollständigen suchen. Man nennt das den "Diderot-Effekt", nach dem Philosophen Diderot, der einen Morgenmantel geschenkt bekam und dann das Gefühl hatte, seine ganze Wohnungsausstattung erneuern zu müssen. Wer wie Reinhold Messner sein möchte, kann sich nicht auf die Anschaffung des entsprechenden Eispickels beschränken, sondern braucht auch Schneebrille, Anorak, Schuhe usw. Andere dagegen entdecken schneller, dass sie eben nicht Messner sind und werfen das Gekaufte sofort in die Ecke – aber nur, um neue, intensivere Träume zu entwickeln, die wieder zu neuen Käufen führen usw. So zeichnet sich auch der imaginäre Konsum durch eine eingebaute Unersättlichkeit aus.

Haben und Nichthaben

Soweit zur Präzisierung der Suchtdiagnose. Aber: Wer genau ist der Junkie? Hier vernachlässigen die Konsumkritiker etwas Elementares: Für den symbolischen Konsum braucht man Geld. Das scheint so selbstverständlich zu sein, dass es den meisten Autoren nicht der Erwähnung wert ist, aber es ist alles andere als trivial. Geld stellt keineswegs bloß eine "Ressource" dar, die man braucht, um Wünsche zu befriedigen, die unabhängig vom Geld entstanden sind. Als ein privates Eigentumsrecht auf Reichtum schafft es vielmehr, wie der Soziologe Georg Simmel es formuliert hat, einen "mittleren Zustand zwischen Haben und Nichthaben", in dem die Dinge uns überhaupt erst begehrenswert erscheinen. In diesem Sinne lässt Geld die Konsumwünsche erst entstehen und bildet nicht nur eine externe Bedingung für ihre Befriedigung. Der Unterschied zwischen dem Reichen und dem Armen besteht nicht nur darin, dass dieser über viele Güter verfügt, jener über nur wenige. Entscheidend ist, dass sein Geld den Reichen in die Lage versetzt, wählen zu können, während der Arme immer nur das Notwendigste (Billigste) kaufen kann. Die Wahlmöglichkeit lässt den Appetit nach Gütern überhaupt erst entstehen, die dem Armen unerreichbar fern scheinen. Was Schopenhauer über das Geld gesagt hat – wie beim Seewasser werde man umso durstiger, je mehr man davon trinke – gilt auch für den symbolischen Konsum. Das verweist auf einen inneren, nicht nur äußeren Zusammenhang zwischen Geld und symbolischem Konsum: Hinter den Fantasien der Konsumenten steht die eine, große, in der Vermögensform des Geldes selbst angelegte Utopie: Wenn ich nur genug Geld habe, "kann" ich alles, was die Menschheit kann: schön sein, gebildet, klug, stark, gesund, vielleicht eines Tages sogar unsterblich. Nicht alle Vermögenden müssen diese Träume in Konsumhandlungen wirklich ausleben. Es gibt auch jene, die von den bloßen Verheißungen des Vermögensbesitzes selbst schon so überwältigt sind, dass sie das Geld am liebsten gar nicht ausgeben, oder nur nach dem Prinzip: Geiz ist geil. Gegenüber Gütern bietet Geld überdies den Vorteil, enttäuschungsfest zu sein. Allerdings bezahlt der Finanzinvestor diesen Vorteil mit einer um so größeren Unersättlichkeit in Bezug auf das Geld selbst. Das nagende Gefühl, nie genug Geld zu haben, setzt ihn unter einen dauernden Akkumulations- und Vermehrungsdruck.

Wer die Unersättlichkeit des Konsums kritisiert, kann vom Geld und der Gier nach ihm nicht schweigen. Es handelt sich primär um ein Problem der vermögenden, mittleren, oberen Schichten der Bevölkerung. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung auch in den entwickelten Ländern dagegen kann sich den symbolischen Konsum angesichts sinkender Realeinkommen nicht leisten; sie konsumiert nur materiell, eigentlich gar nicht. So berechtigt die Kritik am symbolischen Konsum der vermögenden Mittel- und Oberschichten und seinen aufreizenden Begleiterscheinungen sein mag: Mehr Konsumaskese würde das Problem des Überflusses an anlagesuchenden Finanzvermögen nur noch vergrößern und damit mitnichten einen Weg aus der Krise weisen. Müssten nicht große Teile der Konsumindustrie mangels Gewinnen dichtmachen? So lautet mein Fazit über die grüne und konservative Konsumkritik: gut gemeint, aber zu kurz gesprungen. Wer den Wachstumszwängen des Kapitalismus auf den Grund gehen will, muss weiter springen, tiefer bohren und die Vermögensform des Geldes in den Blick nehmen. Ohne eine subjektive und objektive Entzauberung der Geldutopie, und das heißt auch: ohne eine gesellschaftliche Einbindung und Begrenzung monetärer Eigentumsrechte, wird auch eine vernünftige Begrenzung des Konsums kaum gelingen können. (Christoph Deutschmann / DER STANDARD, Printausgabe, 3./4.3.2012)