Rauchen wirkt gegen Hustenreiz! 20.679 Ärzte können sich bezüglich der Zuträglichkeit der Zigarette nicht irren. (Werbung von 1931)

Foto: http: //tobacco.stanford.edu

"Der Tabakindustrie ist es wieder einmal gelungen, sich unsichtbar zu manchen." Sie sehen alles, aber agieren völlig geheim, meint ihr Kritiker Robert Proctor.

Foto: Linda A. Cicero / Stanford News Service
Foto: University of California Press

Mehr als zehn Jahre lang hat Robert Proctor an dem Ziegel mit dem provokanten Titel gearbeitet: Am Dienstag dieser Woche erschien das Buch "Golden Holocaust: Origins of the Cigarette Catastrophe and the Case for Abolition" in den Vereinigten Staaten (Der Untertitel auf Deutsch etwa: "Die Ursprünge der Zigarettenkatastrophe und ein Plädoyer für die Abschaffung"). Robert Proctor, renommierter Wissenschaftshistoriker an der Stanford University in Kalifornien, erstellt darin ein Sündenregister der Tabakindustrie. Und dieses ist lang und umfangreich (752 Seiten).

Während des Lesens schwankt man zwischen Wut angesichts der kriminellen Energie der Tabakmanager und Fassungslosigkeit darüber, wie sich zahllose Politiker, Behörden, Universitäten, Mediziner, Juristen, Historiker, Journalisten und Hollywoodgrößen über Jahrzehnte hinweg kaufen oder einlullen ließen - oder beides.

Ein deutschsprachiger Leser stolpert zunächst einmal über den Titel: "Golden Holocaust"? Der anerkannte Wissenschafter Proctor ist sich der Problematik des Titels sehr wohl bewusst, wie er im Gespräch mit dem STANDARD klarstellt. Schließlich hat er sich mit seinen Büchern zur " Rassenhygiene" und zur Krebsforschung im Nationalsozialismus einen Namen gemacht. "Ich weiß, dass der Genozid an den europäischen Juden nicht mit den Opfern des Rauchens zu vergleichen ist. Mit dem Begriff Holocaust verwende ich eine starke Rhetorik, die auch auf Provokation setzt", bekennt Proctor.

Ist das nötig? Mittlerweile bemüht sich selbst die Tabakindustrie kaum einmal mehr, die krebserregende Wirkung ihres Produkts zu leugnen. Rauchfreie Zonen allerorten, deutliche Warnungen auf den Packungen, hohe Strafzahlungen für die Konzerne. Dass deren Bosse keine Anwärter für den Friedensnobelpreis sind - geschenkt. "Old news", Hund beißt Mann. Ja, aber genau das ist das Problem, sagt Proctor. Die eigentliche Katastrophe steht uns noch bevor. Im 20. Jahrhundert starben etwa 100 Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums (jeder zweite Raucher).

Hunderte Millionen Tote

Derzeit geht die Weltgesundheitsorganisation WHO jährlich bereits von etwa sechs Millionen Toten aus, Tendenz steigend. Allein in China, dem großen Wachstumsmarkt der Tabakindustrie mit noch stark unterentwickelter Regulierung, werden im Laufe des 21. Jahrhunderts vermutlich hunderte Millionen Menschen vorzeitig sterben, weltweit bis zu einer Milliarde.

"Der Tabakindustrie ist es wieder einmal gelungen, sich unsichtbar zu machen", sagt Proctor. In seinem Buch verwendet er gerne das Bild des verspiegelten Glases, hinter dem sich die Zigarettendreher verstecken. Sie sehen alles, aber agieren völlig geheim.

Infolge eines gerichtlichen Vergleichs mit 46 US-Bundesstaaten im Jahr 1998 wurde die US-Tabakindustrie nicht nur zu immensen Schadenersatzforderungen in dreistelliger Milliardenhöhe verurteilt, sondern auch dazu, ihre Unterlagen aus den zurückliegenden Prozessen offenzulegen.

So entstand die Legacy Tobacco Documents Library, die derzeit 13 Millionen Dokumente enthält. Die Strategie der Tabakkonzerne war es, das Archiv mit dieser schieren Flut an Papier unbenutzbar zu machen, sagt Proctor. Aber sie hatten die Rechnung ohne Internet und Volltextsuche (http://legacy.library.ucsf.edu) gemacht. Insgesamt mehr als 70 Millionen Seiten über Produktion, Werbung und Forschung der Tabakindustrie liefern zahlreiche Nuggets für "Golden Holocaust". Aber der Reihe nach.

Als sich in den USA Anfang der Fünfzigerjahre ein wissenschaftlicher Konsens herausbildete, dass Rauchen Lungenkrebs hervorruft, waren Philip Morris und andere Konzerne alarmiert. In offiziellen Stellungnahmen betonten sie immer wieder, dass sie "nie ein Produkt herstellen und vertreiben werden, von dem gezeigt wird, dass es Ursache für Krankheiten ist". Gleichzeitig initiierten sie, so Proctor, eine der "ehrgeizigsten und erfolgreichsten Betrugskampagnen der Moderne".

Um sich als verantwortliche Industrie zu stilisieren, gründeten sie das Council for Tobacco Research und investierten hunderte Millionen Dollars, um die Gefahren des Rauchens zu untersuchen - vermeintlich. Denn kein Beleg war ihnen gut genug. Diese Alibiforschung diente einzig und allein dem Zweck, Zeit zu schinden, um dergestalt weiter möglichst viele Zigaretten verkaufen zu können. "Zweifel ist unser Produkt" heißt es beispielsweise in einem internen Memo von Brown & Williamson aus dem Jahre 1969. Bis in die Neunzigerjahre war für die Tabakindustrie die Frage der Gesundheitsgefährdung durch Rauchen offen, nicht bewiesen, umstritten.

Nachdem sich die Tabakindustrie Heerscharen von Medizinern und Chemikern, ja halbe Universitäten mit ihren Millionen dienstbar gemacht hatten, waren als nächstes die Historiker dran, die Hand aufzuhalten. Von den Achtzigerjahren an wurde die Tabakindustrie mit enormen Schadensersatzforderungen überzogen. Bei den Prozessen war die entscheidende Frage, ob und ab wann bekannt gewesen sei, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist. Die Verteidigung verfolgte eine gleichermaßen dreiste wie schizophren anmutende Doppelstrategie.

Nebel werfen, Zweifel säen

Einerseits: Otto Normalraucher müsse klar gewesen sein, welches Risiko er einging. Er dürfe sich jetzt nicht beschweren, dass er an Lungenkrebs sterbe. Andererseits: Der Industrie sei kein Vorwurf zu machen, sie habe ja forschen lassen, aber eben keinen stichhaltigen Beweis liefern können. Und überhaupt: Geschichte sei einmal kompliziert und könne nicht vom Standpunkt der Gegenwart aus beurteilt werden.

Gutachten von Historikern sollten dies belegen. Nur seien diese von Auslassungen und Verzerrungen gekennzeichnet, so Proctor. Denn wieder galt es: Nebel werfen und Zweifel säen. Proctor scheut sich nicht, seine Kollegen an den Pranger zu stellen: Er listet 48 Historiker auf, die meist anonym als Experten für die Tabakindustrie arbeiteten und dafür Honorare in Millionenhöhe erhielten.

Nur 500.000 Dollar erhielt Sylvester Stallone dafür, dass er in fünf "Rocky"-Filmen Zigaretten von Brown & Williamson paffte. Die lange Liste der Schauspieler und Studios, die qua Product-Placement Werbung für Zigaretten machten, liest sich fast wie ein Who's who der Kinogeschichte - und das bis zum heutigen Tag, siehe Sigourney Weaver in "Avatar". Die qualmenden Kinohelden sollen die "starters" animieren, wie die Marketingstrategen von Big Tobacco sagen, die Jugendlichen.

Sechs Billionen Zigaretten werden Jahr für Jahr hergestellt und geraucht (als Zahl ausgeschrieben: 6.000.000.000.000). Proctor kann anhand der bis dato geheimen Unterlagen mit einer enormen Fülle erschreckender Details zeigen, wie die Tabakindustrie von jeher bis ins Kleinste an dem ein Gramm schweren Stängel herumfeilt: von Geruch und Brennbarkeit des Tabaks über die Farbe des Papiers - am besten Elfenbeinweiß - bis hin zur Konsistenz der Asche.

Arsen, Blei und Asbest waren in früheren Jahren drin, Pflanzenschutzmittel und weitere Karzinogene sind es bis heute. Und natürlich Polonium 210 - ja, Radioaktivität wird auch inhaliert. Der Nikotingehalt wird bewusst hoch gehalten, damit die Nutzer abhängig werden. Filterzigaretten und "Light"-Marken machen Zigaretten keineswegs gesünder, für Proctor ein weiteres Täuschungsmanöver der Tabakindustrie.

Klar: in "Golden Holocaust" spricht ein Mann mit einer Mission, aber er tut es ohne Schaum vor dem Mund. Die Polemik ist wohldosiert, der Moralingehalt gut verträglich. Das Buch liest sich blendend, glänzt mit Aperçus und mit Witz.

Seriöse historische Forschung und ein politisches Anliegen müssen einander nicht ausschließen. Robert Proctor unterbreitet am Ende Vorschläge zur Reduktion des Tabakkonsums. Und er ist, der Leser wundert sich ein wenig, tatsächlich optimistisch, dass die Menschen langfristig das Rauchen aufgeben werden. Und damit sie das tödlichste Ding, das sie je erfunden haben, nicht mehr zwischen die Lippen stecken werden: die Zigarette. (Oliver Hochadel/DER STANDARD, Printausgabe, 3./4. 3. 2012)