Eine schillernde Geschichte von Aufstieg und Fall in Russland nach 1989: Michail Chodorkowski (li.), hier noch in Gesellschaft von George W. Bush, gegenwärtig aufgrund von Wirtschaftsdelikten in Haft.

Foto: Thimfilm

Oligarch Michail Chodorkowski hinter Gittern.

Foto: Thimfilm

Bild nicht mehr verfügbar.

Regisseur Cyril Tuschi bei der Präsentation des Films in Moskau.

Foto: REUTERS/Staff

Wien - Die Stadt Chanty-Mansijsk im südlichen Ural ist für die Verhältnisse der russischen Provinz außergewöhnlich reich. Das liegt an der Ölindustrie, die dort eines ihrer Zentren hat. Der deutsche Filmemacher Cyril Tuschi kam anlässlich eines Festivals nach Chanty-Mansijsk, und hier hörte er zum ersten Mal den Namen.

Es ist im Grunde nur logisch, dass Cyril Tuschi zuerst die Idee hatte, einen Spielfilm über dieses schwer zu durchblickende Milieu der Oligarchen zu machen. Doch dann dachte er um und begann, sich auf die Spuren von Michail Borissowitsch Chodorkowski zu setzen. Unweigerlich bedeutete dies auch, dass er sich mit Wladimir Putin beschäftigen musste. Denn der prägende russische Politiker des vergangenen Jahrzehnts sieht in Chodorkowski offensichtlich einen persönlichen Gegner, und vielfach wird der Vorwurf geäußert, dass die Beeinflussung der Justiz in diesem Fall ganz oben beginne.

Eine der besten Polit-Reportagen der vergangenen Jahre

Man braucht wahrscheinlich ein gewisses Maß an anfänglicher Blauäugigkeit, um einen Film wie Der Fall Chodorkowski überhaupt in Angriff zu nehmen. Doch irgendwann war Tuschi zu tief involviert. So entstand einer der interessantesten politischen Reportagefilme der vergangenen Jahre, eine gelungene Gratwanderung zwischen notwendiger Vereinfachung und detailliertem Rekonstruktionsversuch.

Die wesentliche Zuspitzung liegt in der Spannung zwischen Putin und Chodorkowski. Im Grunde hat Tuschi antizipiert, dass auch das System der gelenkten Demokratie seine Bruchstellen hat. Möglicherweise wird Chodorkowski diese Lektion noch lernen müssen. Michail Chodorkowski, der mit der Ölfirma Yukos reich geworden war. Von den Oligarchen, die in Russland nach 1989 die Pfründe unter sich aufteilten, ist er inzwischen auch deswegen einer der bekanntesten, weil er seit vielen Jahren im Gefängnis sitzt. Das liegt daran, dass der russische Staat an Chodorkowski ein Exempel statuiert hat: Er wurde wegen Steuerhinterziehung und Betrugs angeklagt, später wegen Geldwäscherei und Unterschlagung. Viele sehen in Chodorkowski einen politischen Gefangenen.

"Messianische" Rolle

Denn die stärkste Suggestion in Tuschis Film bezieht sich auf das politische Selbstverständnis des prominenten Häftlings. Der sehe sich nämlich in einem Läuterungsprozess, an dessen Ende er als freier Mann für das Präsidentenamt kandidieren könnte - als derjenige, der die Ära Putin beendet. Da könnte ihn freilich die Geschichte noch links überholen. Andeutungen für eine "messianische" Rolle, die Chodorkowski sich zuschreibt, trägt Tuschi aus verschiedenen Richtungen zusammen, er hat für seinen Film mit Weggefährten gesprochen, die heute in England oder Israel leben, er hat Familienmitglieder vor die Kamera bekommen, und er hat auch mit Chodorkowski persönlich korrespondiert.

Aus all diesen Stellungnahmen, ergänzt durch Archivaufnahmen, entsteht das Bild einer turbulenten Epoche, und allein das hier präsentierte Material würde Der Fall Chodorkowski schon äußerst sehenswert machen. Doch Tuschi hatte am Ende noch das Glück des Tüchtigen und schaffte es, ein Interview mit dem Protagonisten selbst zu drehen. Es ist eine denkwürdige Szene in einem Moskauer Gerichtssaal, mit Chodorkowski in einem Glaskasten, ganz in seinem Selbstbild als gelassener, sanfter Oppositioneller aufgehend. Die Rätsel, von denen diese Figur umgeben wird, werden bei Tuschi nicht gelöst.

Sie sind im Grunde auch nicht zu lösen, der Film rührt an die Darstellungsprobleme, die das politische Kino dort bekommt, wo es sich in das unmittelbare Feld der Macht begibt: Für Chodorkowski gilt wie für Putin, beide wollen ihr öffentliches Bild kontrollieren, einen Blick hinter die Kulissen gibt es eigentlich nicht. Man kann also nur Material kombinieren, man muss zusammensetzen und auch ein wenig spekulieren, und dann kommt man vielleicht wie Cyril Tuschi auf eine Figur, in der sich russischer Nationalismus, jüdische Identität und westliche Moderne so interessant kreuzen, dass Wladimir Putin blass und altertümlich daneben aussieht.

Der Fall Chodorkowski ist der bisher beste Film über das neue Russland nach 1989, und Material für mögliche Fortsetzungen ergibt sich im Grunde jeden Tag. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, Printausgabe, 2.3.2012)