Dušan Reljić forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sein derzeitiger Arbeitsschwerpunkt ist die Entwicklung am Westbalkan.

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Vor 20 Jahren erklärte Bosnien-Herzegowina seine Unabhängigkeit von Jugoslawien. Serbien soll nun den EU-Kandidatenstatus bekommen, obwohl der Konflikt mit dem Kosovo nach wie vor ungelöst ist. Bosnien steht noch immer auf der Warteliste der EU. Dusan Reljić, Experte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, sprach mit derStandard.at über Nationalismen, Konfliktlinien und mögliche Grenzverschiebungen.

derStandard.at: Die EU-Außenminister haben grünes Licht für einen offiziellen EU-Kandidatenstatus für Serbien gegeben. Wie sehen Sie diese Entscheidung?

Reljić: Diese Entscheidung kommt mit einiger Verspätung. Und zwar sowohl aus der Perspektive serbischer als auch aus der Perspektive von EU-Interessen. Für Serbien ist die Beschleunigung der EU-Integration von entscheidender Bedeutung für die ökonomische und politische Erneuerung. Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, für dauerhafte Stabilität in der Region zu sorgen. Die Koppelung des Erweiterungsprozesses mit der Regelung der Kosovo-Frage birgt die Gefahr in sich, den Erweiterungsprozess sehr zu beschädigen.

derStandard.at: Tatsache ist, dass die Kosovo-Frage bei den Überlegungen der EU ein zentraler Faktor war. Wie sehen Sie die daraus resultierende Vereinbarung zwischen Serbien und dem Kosovo, dass der Kosovo bei internationalen Auftritten ohne die Bezeichnung "Republik" geführt werden soll?

Reljić: Das ist nur ein kleiner Teilaspekt des Problems. Wenn die Beziehung zwischen Belgrad und Prishtina sich "normalisieren" soll, wie es die EU-Staaten fordern, sind noch viele offene Fragen zu lösen. Bestimmte Konditionen der EU sind auch kaum durchsetzbar. So wird von einigen Politikern in den EU-Staaten die Forderung aufgestellt, dass die "Parallelinstitutionen" im serbischen Norden Kosovos (Schulen, Krankenhäuser, Postämter usw.) abgebaut werden sollten (der Norden hat eigene serbische Verwaltungseinrichtungen, Anm.). Eine Frage ist, ob Prishtina die finanziellen Mittel und den politischen Willen dafür überhaupt hätte. Und: Die Serben Kosovos lehnen die kosovarischen Institutionen kategorisch ab. Gegen den Willen der Bevölkerung wird man das nicht machen können.

derStandard.at: Eine Gruppe von zwölf kosovarischen Parlamentsabgeordneten soll angeblich einen Antrag zur Vereinigung des Staates mit Albanien vorbereiten. Ist eine Teilung des Kosovo wahrscheinlich?

Reljić: Die Teilung Kosovos besteht faktisch. Die Frage ist, ob sie als eine Art eingefrorener Konflikt bestehen bleibt oder ob die Regierung in Prishtina mit Gewalt ihre Macht auch auf den Norden ausdehnt. Es könnte auch eine Teilung zwischen Belgrad und Prishtina vereinbart werden. Auch der Option der Vereinigung mit Albanien sollte man die Legitimation nicht absprechen. Die Wahrscheinlichkeit einer Grenzverschiebung im Kosovo und in der Region ist gegeben, und zwar deswegen, weil die Mehrheit der Menschen die aktuellen Grenzen nicht will.

Auf jeden Fall ist der Nationalismus nicht durch externen Einfluss zu bändigen. Das hat sich vom ersten Tag des jugoslawischen Verfallsprozesses an gezeigt. Gutes Zureden aus dem Ausland hat weder die jugoslawische Föderation bewahrt noch Bosnien als einheitlichen Staat noch Serbien vor der Kosovo-Abspaltung.

derStandard.at: Apropos Bosnien-Herzegowina: Vor genau 20 Jahren hat dort der Krieg begonnen. Wie groß ist die Akzeptanz des aus diesem Krieg entstandenen Staatsgebildes Bosnien-Herzegowina aktuell?

Reljić: Der Staat, so wie er jetzt ist, wird kaum von der Bevölkerung akzeptiert. Für die bosnischen Moslems ist es fraglich, ob der Staat in dieser Verfassung ihnen dauerhafte Sicherheitsgarantien gibt. Für die bosnischen Kroaten ist es die Frage, ob sie im Staat dieselben kollektiven Rechte genießen können wie die bosnischen Moslems und die Serben (die durch die Entitäten Republika Srpska und Föderation Bosnien und Herzegowina vertreten sind, Anm.). Und offenbar meinen viele Kroaten, dass das nicht der Fall ist, und verlangen eine dritte Entität für sich. Die bosnischen Serben würden ein Weniger an Autonomie, die ihnen als Ergebnis des Krieges zugestanden wurde, nicht akzeptieren.

derStandard.at: 15 Monate nach der Parlamentswahl im Oktober 2010 hat Bosnien seit Anfang Februar zumindest eine neue gesamtstaatliche Regierung bekommen. Wie bewerten Sie das?

Reljić: Positiv ist, dass die Mitglieder dieser neuen Regierung weniger in der Vergangenheit verankert sind als die davor. Aber es ist bedauerlich, dass diese Einigung 15 Monate gedauert hat. Man muss die politischen Eliten vor die Frage stellen, ob sie mit dieser verantwortungslosen Politik weitermachen wollen. Die wirtschaftlichen Daten für Bosnien sind schlimm. Bosnien ist nach Albanien der Staat, der in der Region am schlechtesten dasteht. Albanien und Bosnien haben aktuell 23 Prozent des durchschnittlichen Bruttoinlandsproduktes der EU-27.

derStandard.at: Ist daran nur die nationalistisch eingefärbte Politik schuld?

Reljić: Für einen wirtschaftlichen Fortschritt sind effiziente staatliche Strukturen notwendig, die in Bosnien nicht gegeben sind. Die Vorstellungen der politischen Akteure zur Reformierung des Staates stoßen eben leider nicht auf einen notwendigen Konsens. Deswegen muss weitergedacht werden. Ermutigend ist zumindest, dass von kroatischer und serbischer Seite keine negativen Einflüsse ausgeübt werden. Keine ernst zu nehmende politische Kraft in Zagreb und Belgrad befürwortet den Anschluss der mehrheitlich kroatisch oder serbisch besiedelten Regionen Bosnien-Herzegowinas an Kroatien oder Serbien.

Aber von den Akteuren vor Ort muss verlangt werden, dass sie den Menschen Rechenschaft ablegen für den ausgebliebenen wirtschaftlichen und sozialen Aufbau und den Mangel an Perspektiven. Die Menschen in Bosnien-Herzegowina selbst müssen darauf pochen. Die Empörung ist ein wichtiges Instrument in der Politik.

derStandard.at: In einem Aufsatz in einer SWP-Studie führen Sie aus, dass Bosnien-Herzegowina trotzdem als Staatsgebilde weit stabiler ist als der Kosovo. Warum?

Reljić: Die Menschen in Bosnien-Herzegowina sprechen eine Sprache. Die Anzahl der Mischehen war schon im früheren Jugoslawien in Bosnien-Herzegowina und in der Vojvodina in Serbien am größten, während Mischehen zwischen Albanern und Slawen fast nicht vorhanden waren. Daran hat sich bis heute nichts verändert. Die ethnische Spaltung in Bosnien ist vor allem ein Produkt des Krieges.

Nach wie vor ist aber eine gewisse kulturelle Einheit gegeben. Ein Beispiel dafür ist der wichtigste Literaturpreis in der Region, der Meša-Selimović-Preis, der in Tuzla vergeben wird. Dieser Preis umfasst Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien. Eine starke Verbundenheit sieht man auch in der Popkultur, im Theaterleben, in der Kinoproduktion, es finden wieder gemeinsame grenzüberschreitende Sportwettbewerbe statt.

derStandard.at: Welche Rolle spielt die EU-Perspektive für Bosnien?

Reljić: Bosnien-Herzegowina kann ohne eine Klammer von außen kaum funktionieren. Es muss eine Festeinbindung in die Umwelt gegeben sein, die die EU-Perspektive ja bietet. Allerdings kommt das ganze Projekt nur langsam voran. Nicht nur wegen der schleppenden Fortschritte bei den Reformen und der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung Bosniens, sondern weil ein großer Teil der politischen Elite, aber auch ein Teil der Menschen in der EU eine Erweiterung ablehnt. Der Kandidatenstatus für Serbien und der baldige Beitritt Kroatiens sind deswegen auch für Bosnien positive Signale.

Sorgen mache ich mir aber auch wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung: Alle Staaten in der Region wickeln 40 bis 60 Prozent ihres Außenhandels mit den Ländern der EU ab. Für die Länder der Region ist es schlimm, wenn in der EU die Wirtschaft stottert. 90 Prozent der Bankkapitals im Westbalkan gehören Banken aus der EU, vor allem aus Italien, Österreich, Griechenland und Frankreich. Und wenn die wirtschaftliche Entwicklung wirklich extrem bergab gehen sollte, dann wird die Region natürlich versuchen, sich anderwärtig zu orientieren: in Richtung, Türkei, Russland, China, arabische Länder. Und mit dem wirtschaftlichen Einfluss kommt auch der politische Einfluss. (mhe, derStandard.at, 1.3.2012)