Wo war noch schnell das passende zweite Kärtchen? Derartige visuelle Informationen werden nur kurzfristig gespeichert.

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Welche Rolle das Gedächtnis dabei spielt, untersuchen Psychologen mit praktischen Experimenten.

Man kennt das: Man steht vor dem Kühlregal des Supermarktes und sucht erst den Mozzarella, dann den Topfen und schließlich die Milch. Sie alle sitzen mehr oder weniger am selben Ort, allerdings nicht allein: Jede Menge anderer Waren beansprucht unsere Aufmerksamkeit und lenkt uns vom Gewünschten ab, sodass wir die einzelnen Stellagen öfter durchschauen müssen, bis wir finden, was wir eigentlich wollen.

Dabei stellt sich oft ein Memory-Gefühl ein: "Das habe ich doch gerade gesehen – aber wo ist es jetzt?" Der Frage, wie wir Dinge bei wiederholter visueller Suche aufspüren, ging Christof Körner vom Institut für Psychologie der Universität Graz mit britischen Kollegen in einem vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekt nach.

In den vergangenen dreißig Jahren wurde über das Thema viel geforscht, doch in erster Linie unter sehr künstlichen Bedingungen: Die Probanden wurden dabei bei jedem Durchgang mit einem Set von Objekten auf einem Bildschirm konfrontiert, in dem sie jeweils eines entdecken sollten. Dabei führten vorherige Suchdurchgänge nicht dazu, dass Gegenstände schneller gefunden wurden.

Allerdings haben solche Aufgaben mit dem wirklichen Leben wenig zu tun. In der Realität bleibt die Umgebung meist stabil, während sich unsere Aufgaben darin ändern: So ist etwa unser Schreibtisch den ganzen Tag lang gleich chaotisch, aber einmal suchen wir den Locher, ein anderes Mal den Tankbeleg und vor der Heimfahrt die Autoschlüssel. Gewöhnlich finden wir alle diese Objekte letztendlich – die Frage ist nur, wie lange es dauert. Unklar war bisher, inwieweit wir bei solchen Aufgaben das Gedächtnis zu Hilfe nehmen.

Kellner-Gedächtnis

Schon seit langem ist in der Psychologie ein Phänomen bekannt, das "change blindness" (Blindheit gegenüber Veränderungen), vulgo auch " Schaffner- oder Kellner-Gedächtnis" heißt: Dabei werden selbst große Veränderungen einer Szene nicht wahrgenommen, solange die Anordnung der Objekte beibehalten wird und die Versuchsperson den Wechsel nicht ansieht.

Nehmen wir zum Beispiel ein teilweise besetztes Lokal oder Zugabteil. Bleiben immer dieselben Plätze besetzt, merkt der Proband oft nicht, wenn die Gäste ausgetauscht werden – und zwar selbst dann nicht, wenn er mit den betreffenden Personen gesprochen hat.

Wenn es um visuelle Aufgaben geht, ist unser Gedächtnis also nicht notwendigerweise aktiv. Wie ist das aber nun, wenn wir unseren Schreibtisch oder das Milchregal absuchen? Christof Körner und sein britischer Kollege Ian Gilchrist boten Versuchspersonen eine echte Tischplatte, auf der sie unter den immer gleichen, aber immer neu angeordneten 38 Objekten in zwei Durchgängen jeweils ein anderes möglichst rasch finden sollten. Die Probanden trugen dabei eine Vorrichtung auf dem Kopf, die sowohl Videoaufnahmen von der Umwelt als auch die eigene Augenposition aufzeichnete.

In insgesamt mehr als 500 Durchgängen stellte sich heraus, dass bei einer solchen Aufgabenstellung sehr wohl mit dem Gedächtnis gearbeitet wird. Die Teilnehmer fanden ein Zielobjekt bei der zweiten Suche deutlich schneller, wenn sie es bei der ersten Suche schon einmal visuell fixiert hatten: Sie mussten dann nämlich nur durchschnittlich 3, 5 Objekte anschauen. Dagegen brauchten sie sechs, wenn sie das spätere Zielobjekt im ersten Durchgang nicht bewusst wahrgenommen hatten. Offenbar werden auch Dinge, die gerade nicht im Zentrum des Interesses stehen, vorübergehend im Kurzzeitgedächtnis gespeichert.

Dabei zeigt sich ein Phänomen, das charakteristisch für das Kurzzeitgedächtnis ist, nämlich der sogenannte Rezenzeffekt: Je kürzer der Eingang einer bestimmten Information zurückliegt, desto höher ist die Chance, sich daran zu erinnern. Das zeigten Körner und Gilchrist in weiteren Suchexperimenten, bei denen die Erinnerung an ein schon einmal gesehenes Objekt mit jedem dazwischen angeschauten Ding rapide sank. Das mag uns in der Praxis manchmal ärgern, ist aber auf längere Sicht eine gute Idee: Würden solche Informationen länger gespeichert, kämen sie uns bei neuen Suchvorgängen leicht in die Quere.

Energiesparmodus

Bleibt noch die Frage, warum das Gedächtnis bei manchen Suchexperimenten am Bildschirm keine Rolle spielte. "Es mag damit zu tun haben", führt Körner aus, "dass Menschen erst dann das Gedächtnis bemühen, wenn es sich auszahlt. Sie wechseln also möglicherweise erst dann zu einer gedächtnisbasierten Strategie, wenn sie sicher sind, dass die Versuchsanordnung immer gleich bleibt, was bei der Bildschirmvariante nicht so sicher ist."

Wenn Sie also das nächste Mal im Kühlregal den Rahm nicht gleich finden, ärgern Sie sich nicht: Ihr Gehirn fährt gerade eine energiesparende Strategie. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.02.2012)