Das syrische Verfassungsreferendum ist - abgekoppelt von der Frage, ob der neue Verfassungstext mittelfristig einen Systemwechsel einleiten könnte - ein großes Missverständnis: Das syrische Regime glaubt, ermuntert vor allem durch Russland, noch immer, die Zukunft des Landes im Alleingang gestalten zu können - während die Aufständischen nicht einmal mehr an einem verhandelten Abgang der Assads interessiert sind, wie es dem größten Teil der internationalen Gemeinschaft vorschwebt.

Zwischen den beiden Wünschen und Wahrnehmungen liegt ein fast nicht aufzubrechendes Patt, das die Fronten weiter verhärten lässt. Die kämpfenden Rebellen lassen sich kaum noch von der politischen Opposition beeinflussen, und auf Regimeseite fallen die letzten Tabus, denn auch dort gibt es zwischen Sieg und Niederlage keinerlei Spielraum mehr. Die Realität wird für Syrien und das vielzitierte syrische Volk allerdings anders aussehen. Die jetzige Situation kann sich in unterschiedlichen Szenarien noch sehr lange hinziehen, wenn nicht etwas passiert, das die internationale Gemeinschaft ihren Auftritt - für den die hilflose Konferenz in Tunis typisch war - radikal ändern lässt.

Es ist anzunehmen, dass die Rebellen, die ja inoffiziell längst mit Waffen unterstützt werden, früher oder später gewisse Städte und Landstriche kontrollieren werden, während sich Assad in Damaskus und anderswo noch gut halten kann. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in befreiten Territorien nach der Vertreibung des Regimes Machtkämpfe der verschiedenen Clans und Gruppen ausbrechen - jedenfalls wäre die Hoffnung naiv, dass sie sofort Keimzellen eines moderaten, von den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft konsensuell regierten neuen Syriens sein würden.

Der syrischen Opposition, und zwar innen und außen, ist nicht ansatzweise gelungen, was die libysche ganz gut schaffte, so fragmentiert sie sich seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis präsentiert: ihre Unterschiede während des Aufstands für ein gemeinsames Ziel weitgehend zu transzendieren. Natürlich ist der Vergleich unfair, die libysche Gesellschaft ist wenigstens religiös homogen, und auf libyschem Territorium spielt sich auch kein hegemonialer, religiös konnotierter Machtkampf ab wie jener zwischen Iran und Saudi-Arabien in Syrien.

Aber die syrischen Handicaps reichen nicht aus, um das armselige Bild zu erklären, das die Opposition, verkörpert vom Syrischen Nationalrat (SNC), abgibt. Irgendwann werden die USA und die Europäer wohl den Schritt machen und ihn trotzdem anerkennen, mangels Alternativen. Aber es muss noch viel passieren, dass man dem SNC die Aufgabe zutrauen kann, die syrische Transition zu managen.

Monatelang war der SNC vorwiegend damit beschäftigt, seine eigenen Legenden zu spinnen, zum Beispiel jene von der syrischen Gesellschaft, in der es konfessionelle Konflikte nie gegeben hat und nie geben wird. In all den Monaten hat es der SNC dabei nicht einmal geschafft, einen Alawiten in sein Exekutivkomitee zu setzen. Das wäre das Minimum, um die alawitische Gemeinschaft davon zu überzeugen, ihr Schicksal von dem der Assads zu lösen. Auch die Kurden - keineswegs Freunde des Assad-Regimes - sind in der Opposition noch immer nicht integriert. Das liberale Lager wird zwischen Idealisten und Egozentrikern aufgerieben. Übrig bleiben werden wie immer die Islamisten. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, Printausgabe, 27. Februar 2012)