Die aktuellen Tumulte rund um die Koranverbrennungen in Afghanistan sind keineswegs ein singuläres Ereignis: Obwohl die muslimischen Sensitivitäten prinzipiell bekannt sind, passieren absichtliche oder unabsichtliche US-Verstöße dagegen immer wieder, werden immer wieder manipulativ zur Mobilisierung gegen die internationalen Truppen eingesetzt und rufen auf Politikerseite immer wieder die gleichen, teils populistischen (Karsai), teils hilflosen Reaktionen (Obama) hervor.

Was soll der US-Präsident auch sonst tun als sich entschuldigen (die geifernden Republikaner seien daran erinnert, dass ihr George W. Bush das ebenfalls getan hat). Aber zu meinen, die aufgestachelten Demonstranten würden das jemals erfahren - oder wenn doch, es würde sie und ihre Einpeitscher beeindrucken -, ist nicht von dieser Welt. Das ist aber auch die vom afghanischen Präsidenten geäußerte Ansicht nicht, die US-Soldaten, die die Koranexemplare gemeinsam mit anderen für sie unleserlichen Schriften verbrannt hätten, müssten dafür angeklagt und bestraft werden.

Die Erkenntnis, dass ein Koranexemplar a priori einem Nichtmuslim auch dann nichts bedeutet - und nichts bedeuten muss -, wenn er weiß, was es ist, ist den Beleidigten am Hindukusch wohl nicht zuzumuten (eventuellen hiesigen Beleidigten hingegen schon). Aber zum besseren Verständnis der Aufregung sollte man wissen, dass die Analogbildung, der Koran sei die " muslimische Bibel", völlig zu kurz greift. Der Status des Koran als wortwörtliche Verkündigung Gottes ist ein ganz anderer - im Christentum dem Stellenwert des Christus vergleichbar -, und die Sakralisierung erstreckt sich auch auf das physische Buch selbst, auf jedes Exemplar.

Man könnte sogar spekulieren, dass das Koranexemplar in nicht-arabischsprachigen Kulturen mit einer teils analphabetischen Bevölkerung umso bedeutender ist: Die Form, die Hülle, wird zum Inhalt. Wenn man unbedingt vergleichen will: "Schändungen" - auch das eine Kategorisierung, die nur für Christen gültig ist - von geweihten Hostien, das käme ungefähr hin.

US-Präsident Barack Obama kann die Affäre jedenfalls so gut brauchen wie ein blaues Auge. Die USA brechen auf beinahe täglicher Basis eigene Tabus, um sich einen halbwegs ehrenhaften Abgang aus Afghanistan zu sichern. Dazu brauchen sie eine zumindest neutral-freundliche öffentliche Meinung. Vor allem jedoch führen sowohl Amerikaner als auch die afghanische Regierung längst Gespräche mit den Taliban - wo jene Fraktion, die meint, mit den Amerikanern und ihrer Marionette Karsai könne man nur Krieg führen und nicht verhandeln, auf so etwas wie diesen Anlass sehnlichst gewartet hat.

Dabei kommen erstmals auch positive Signale aus Pakistan, sicherlich auch den eigenen innenpolitischen Wirren geschuldet, dass Islamabad künftig afghanisch-afghanische Versöhnungsgespräche unterstützen und nicht mehr unterlaufen wird wie zuvor. Was deren Resultat, die Machtteilung mit den Taliban, für die Menschen in Afghanistan heißen wird - jene, die sich nicht aufhetzen lassen, weil sie das Spiel durchschauen oder die Fanatiker mehr fürchten als die internationale Militärpräsenz -, das ist längst nicht mehr die Frage. Afghanistan ist, gemessen an dem, wofür man hingegangen ist, verloren. Und die Koran-Affäre kann nur ausgesessen werden, wie alle anderen zuvor auch. (DER StANDARD Printausgabe, 25.2.2012)