DER STANDARD-Schwerpunktausgabe Gerechtigkeit

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Man hat es ja immer schon gewusst, das Beispiel Mitt Romney war quasi nur der letzte Beweis. Dass der wohlhabende republikanische US-Präsidentschaftskandidat nur 13,9 Prozent seines Einkommens von 42 Millionen Dollar abliefert, obwohl der Spitzensteuersatz in den Vereinigten Staaten 35 Prozent beträgt, hat den Wahlkampf ordentlich angeheizt. Die USA - das Paradies für die Superreichen. Ein Land, wo die Schere zwischen Arm und Reich (gemessen am Gini-Koeffizienten) größer ist als in Kamerun oder Costa Rica.

Doch was klar auf der Hand liegt, hat - wie so oft - eine Kehrseite. Die USA zwacken nämlich bei den Spitzenverdienern gar nicht so wenig ab. Die zehn Prozent mit dem höchsten Einkommen zahlen 45 Prozent der gesamten Steuern und Sozialabgaben - ein laut Industriestaatenorganisation OECD auch im internationalen Vergleich absoluter Spitzenwert. Mitt Romney kann auch nicht als typischer amerikanischer Fall herangezogen werden, bezieht er doch fast ausschließlich Einkommen aus Kapitalerträgen, und für die gilt in den USA ein niedrigerer Steuersatz.

Das Beispiel zeigt, dass die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann. Dass amerikanische Spitzenverdiener gar nicht so schwach zur Kasse gebeten werden, lässt sich ebenso argumentieren wie die Behauptung, dass die Vereinigten Staaten bei der Einkommensverteilung nach Mexiko die schlechtesten Werte der westlichen Industriewelt aufweisen.

Ausgeglichene Schweiz

Ein anderes auffälliges Beispiel stellt die Schweiz dar, in der man ein riesiges Verdienst-Gefälle vermuten würde. Tatsächlich ist die Brutto-Einkommensverteilung die ausgeglichenste weltweit. Das ist eine Folge der hohen Beschäftigung, durch die die "unteren Schichten" stark profitieren und wegen der sich der Abstand zu den Topverdienern einigermaßen in Grenzen hält.

Und wie sieht es in Österreich aus? Brutto sind die Einkommen etwas ungleicher verteilt als in der Schweiz, Dänemark oder Schweden, aber deutlich gleicher als in Frankreich, Deutschland oder Italien, das überhaupt die größte Konzentration von Top-Verdienern in Europa aufweist. Netto - also nach Steuern und Transfers - verbessert Österreich seine Position deutlich und rückt nach Tschechien und Schweden an die Spitze der Gleichverteilung. Das überrascht nicht besonders, verbessern doch Transfers das Einkommen des unteren Drittels um 50 Prozent.

Zu anderen Ergebnissen kommen Untersuchungen zum Vermögen, also nicht des laufenden Einkommens. Die Top-Zehn-Prozent halten laut Nationalbank 54 Prozent des Geldvermögens, bei Immobilien sind es sogar 61 Prozent. Allerdings: Kritiker verweisen darauf, dass diese Berechnungen ausschließlich auf Umfragen basieren. Konrad Pesendorfer, Chef der Statistik Austria, hält die Kalkulationen für seriös. Wilfried Altzinger von der Wirtschaftsuniversität spricht bei den Erhebungen von einem Graubereich: Superreiche würden von der Notenbank nicht ausreichend erfasst, kritisiert er.

Arme

Trefflich streiten lässt sich auch über die Armutsberechnungen. Die EU-Kommission hat 2010 bei den "manifest Armen" für Österreich einen Rückgang auf 355.000 Betroffene errechnet. Die Statistik Austria machte einen Zuwachs auf 511.000 Personen aus. Die Zahlen seien durch neue Kriterien "willkürlich verschärft worden", meint dazu der Publizist Wolfgang Hörl. Pesendorfer bestätigt, dass man die Berechnung umgestellt habe. Der Besitz einer Waschmaschine, eines Autos und eines Telefons wird nun nicht mehr berücksichtigt - früher war dies ein Indikator dafür, nicht arm zu sein. Statt dessen wird nun erhoben, ob die Befragten eine unerwartete Ausgabe von 950 Euro finanzieren, oder ein Mal im Monat Freunde zum Essen einladen können. Pesendorfer bestätigt die Änderungen, bestreitet aber, dass dadurch die Armut hoch getrieben worden sei.

Tatsächlich gibt es auch Kritiker von anderer Seite. "Man behauptet, dass sich Armut in etwa konstant verhält, berücksichtigt dabei aber nicht, dass eigentlich nur Haushalte befragt werden. Würde man auch Obdachlose befragen, so könnte man einen ansteigenden Trend beobachten", erklärt Wirtschaftsforscher Alois Guger. Globalisierungsbefürworter Hörl wiederum findet, dass die erzielten Verbesserungen bei der Einkommensgerechtigkeit "politisch nicht erwünscht" seien und deshalb statistisch getrickst werde. (Andreas Schnauder, Clemens Felber, DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.2.2012)