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"Civility ist die Fähigkeit zusammenzuleben, das ist die Basis jeder Zivilisation", sagt der US-ameri-kanische Soziologe Richard Sennett. "Auf dieser Idee baut meine Arbeit auf."

Foto: Colin McPherson / Corbis

STANDARD: Sie haben einmal einen Vortrag zum Thema "Architektur der Gerechtigkeit" gehalten. Gibt es so etwas überhaupt?

Sennett: Ja, eine gerechte Architektur, die gibt es wirklich. Allerdings ist sie vom Aussterben bedroht. Ich befasse mich zurzeit sehr stark mit der Großstadt, mit den Lebensbereichen der unterschiedlichen sozialen, ethnischen und kulturellen Gemeinschaften. Und ich erkenne, dass die "Borders", also die physischen Grenzen, in der modernen, zivilisierten Stadt immer mehr verschwinden. Doch gleichzeitig beobachte ich, wie die "Boundaries", also die psychischen, mentalen Grenzen in der Bevölkerung und im System, immer stärker und stärker werden. Und das stimmt mich sehr nachdenklich.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel für diese "Boundaries" nennen?

Sennett: Ich lebe in London. Das ist eine sehr teure, aber dafür weltoffene Stadt, die imstande ist, vielen Menschen eine Lebensnische zu bieten. Was ich allerdings nicht verstehen kann: In ganz London gibt es exakt zwei Krankenhäuser, die in der Lage sind, Knochenerkrankungen zu behandeln. Zwei Krankenhäuser für zehn Millionen Menschen! Alte und gebrechliche Personen müssen regelmäßig ein bis zwei Stunden im Bus sitzen, um ins Spital zu fahren. Das sind riesige "Boundaries". Eine Architektur der Gerechtigkeit sieht anders aus.

STANDARD: Und zwar wie?

Sennett: Gerechtigkeit, das ist Dezentralisierung, Diversität, Vitalität und Infrastruktur. Natürlich kann es in einer Stadt wie London nicht 50 Knochenspitäler geben, aber eine gewisse Streuung wäre dringend nötig. Da ist die öffentliche Hand aufgefordert, etwas zu tun. Und mit ihr die Raumplaner, Investoren und Projektentwickler.

STANDARD: Sie sprechen von Infrastruktur. Heißt das, gerechtes Leben existiert eher in der Stadt als auf dem Land?

Sennett: Absolut.

STANDARD: Was ist mit Megastädten wie Mexiko-Stadt, São Paulo, Mumbai, Jakarta oder Peking? Wo ist da die soziale Gerechtigkeit?

Sennett: Jetzt wird's kompliziert. Wie viel Zeit haben Sie?

STANDARD: Mehr als Sie.

Sennett: Diese Städte, die Sie ansprechen, sind schnell wachsende Ballungsräume mit einer immer größer werdenden wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Hinzu kommt, dass die Regierung und die Stadtplaner die Wegdistanzen zwischen den einzelnen Stadtteilen schon lange nicht mehr managen können. In Peking zum Beispiel befinden sich die Universitäten, Krankenhäuser und Shoppingcenter irgendwo am Stadtrand. Sämtliche Maßnahmen, den Verkehr in den Griff zu kriegen und ein neues Erschließungskonzept zu entwickeln, sind gescheitert. Peking ist eine strukturell kaputte Stadt, ein Stadtplanungsdesaster, ein hoffnungsloser Fall, ein Paradebeispiel der gebauten Ungerechtigkeit.

STANDARD: Was ist mit den anderen Städten?

Sennett: Andere Megastädte, in denen ich arbeite, beispielsweise Mexiko-Stadt, befinden sich in einer weitaus besseren Situation. Sie haben die Probleme rechtzeitig erkannt und fangen an, die öffentlichen Geldmittel zielbringend einzusetzen. Eines ist aber klar: Die südamerikanische oder südostasiatische Mega-City wird niemals so hübsch ausschauen wie das kleine Wien mit seiner prachtvollen Ringstraße. Von diesem Bild müssen wir uns verabschieden. Da müssen neue urbane Modelle her.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Sennett: Nachdenken.

STANDARD: Was kommt dabei heraus?

Sennett: Journalisten! Nicht einmal Zeit zum Nachdenken hat man. Ein wichtiger Punkt ist der öffentliche Verkehr. In Caracas, Venezuela, wurde die hoch gelegene Slumsiedlung San Augustin mit einer Seilbahn erschlossen. In Bogotá, Kolumbien, hat der frühere Bürgermeister Enrique Peñalosa ein umfassendes Bus- und Radnetz geschaffen. Und in Curitiba, Brasilien, gibt es schon seit langer Zeit ein gut funktionierendes Bussystem. Die Gemeinsamkeit all dieser Städte ist, dass der öffentliche Verkehr erstens weite Teile der Stadt erschließt und zweitens für die Bevölkerung leistbar ist.

STANDARD: Der leistbare öffentliche Verkehr ist nicht die Regel. Viele Großstädte investieren in Straßenbau und teuren U-Bahn-Bau.

Sennett: Ja, das sind kostenintensive Fehlinvestitionen mit katastrophalen Folgen. In Johannesburg wird zurzeit eine teure U-Bahn gebaut, deren Benützung sich nur die Oberschicht wird leisten können. So gesehen ist die U-Bahn ein sinnloses Luxusgut. Und in Indien wird der Markt von billigen Tatamobilen überschwemmt. Es gibt zigfach mehr Fahrzeuge, als die Straßen imstande sind aufzunehmen. Jeder weiß das. Das ist eine Sackgasse.

STANDARD: In Ihren Büchern und Vorträgen verwenden Sie immer wieder den Begriff "Civility". Was genau meinen Sie damit?

Sennett: Mit Civility, also Zivilität, meine ich nicht gutes Benehmen oder Höflichkeit, sondern die Fähigkeit zusammenzuleben. Das ist die Basis jeder Zivilisation. Auf dieser Idee baut meine Arbeit auf. Aber ich muss zugeben, dass ich mit dieser Meinung und mit dieser medial nicht besonders reißerischen These ziemlich allein dastehe.

STANDARD: Warum?

Sennett: Die meisten meiner Kollegen und Studenten haben ein ziemlich pornografisches Interesse für Macht und Obrigkeit.

STANDARD: Zusammen mit der Alfred Herrhausen Society und der London School of Economics arbeiten Sie seit einiger Zeit am Urban-Age-Projekt. Worum geht es da?

Sennett: Urban Age ist ein Anstoß, neue Ansätze zu entwickeln und Erfahrungen auszutauschen. Wir bringen Stadtplaner, Architekten, Städteforscher und Behörden der größten Städte der Welt an einen Tisch und laden die Leute ein, miteinander zu diskutieren. Seit der Gründung im Jahr 2005 gab es schon mehr als zehn Konferenzen. Die letzte war in Hongkong, die nächste wird in London sein. Ein anderes sehr schönes Projekt, an dem ich mitarbeite, nennt sich "Theatrum Mundi". Das ist eine geschlossene Konferenzreihe, an der regelmäßig 15 bis 20 Bürgermeister aus aller Welt teilnehmen.

STANDARD: Und? Gibt es schon konkrete Ergebnisse?

Sennett: Wir beschäftigen uns gerade mit Industrie und Produktion. Das ist ein großer und wichtiger Faktor in Entwicklungsländern. Tatsache ist: Die meisten Produktionsstätten sind viel zu weit von der Stadt entfernt. Die Lebensbedingungen sind schlecht, die Anfahrtswege sind sehr lang. Wir untersuchen stadtplanerische und konkrete bauliche Möglichkeiten, wie wir die Industrie wieder in die Stadt bringen können.

STANDARD: Fabriken mitten in der Stadt? Das hatten wir schon in der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Sennett: Back to the roots! Das Modell war nicht schlecht. Das Problem war nur: Als die Industrie aus Europa ausgelagert wurde, hat man das längst bewährte Modell der Nutzungsdurchmischung nicht mit übernommen. Stattdessen hat man die neuen Industriestandorte als Aliens irgendwo ins Nichts implantiert.

STANDARD: Wachstum, Verkehr, Industrie - Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass die Globalisierung an der Zerstörung unserer Städte schuld ist.

Sennett: Der Kapitalismus ist ein Biest in seiner modernsten Form! Die finanzielle Macht der internationalen Unternehmen ist ein Killer. Sie killt die Qualität und den Lokalkolorit eines Ortes. Das Ergebnis sind dumme, monotone Strukturen und dumme, monotone Gebäude, die auf der ganzen Welt gleich ausschauen. Jetzt werden Sie mich fragen: Was können wir dagegen tun? Und ich werde Ihnen antworten: gar nichts.

STANDARD: Sie geben auf?

Sennett: Ich habe das Tauziehen mit Politik und Wirtschaft schon vor vielen Jahren aufgegeben. Die einzige Hoffnung sind die cleveren, visionären Menschen mit großen finanziellen Ressourcen. Nur davon gibt es nicht viele.

STANDARD: Ein deprimierendes Gesprächsende.

Sennett: Ganz und gar nicht. Ich nehme meine Hoffnung von der Basis, von den Protesten am Tahrir-Platz, von der weltweiten Occupy-Bewegung der letzten Monate. Da ist so unglaublich viel passiert. Der wertvollste öffentliche Raum in einer Stadt wird nämlich nicht "top-down" von oben verordnet, sondern wird "bottom-up" von unten erkämpft. Und diese Qualität von Stadt, glauben Sie mir, die währt am längsten. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, Album, 25./26.2.2012)