DER STANDARD - Schwerpunktausgabe Gerechtigkeit

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Der "American Dream" predigt gleiche Chancen für alle - die Realität sieht für viele Amerikaner anders aus.

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Vor 50 Jahren war das Leben in Belmont, Massachusetts, nicht so viel anders als das in Fishtown, Pennsylvania. Zugegeben, in Belmont besaß man schon damals die größeren Fernseher, aber hier wie dort sah man die gleichen Sendungen. Heute sitzt man in Fishtown schon tagsüber stundenlang vor dem Apparat, während die Belmonter das Gerät, wenn überhaupt, nur am Abend einschalten. In Belmont wurde 1960 geraucht, in Fishtown auch. In beiden Städten trank man Bier, die Urlaubsreise führte meist an die nahe Atlantikküste, in relativ bescheidene Feriensiedlungen.

Heute ist der Glimmstängel in Belmont so gut wie tabu. Und wenn es statt Rotwein Bier sein muss, dann solches aus der lokalen Mikrobrauerei. Der jährliche Kulturtrip nach Paris oder Berlin, Rom oder Florenz gehört zum Pflichtprogramm. In Belmont hat fast jeder einen College-Abschluss - in Fishtown nahezu keiner. In Belmont sind Frauen in aller Regel verheiratet, wenn sie ihr erstes Baby bekommen - in Fishtown wachsen 44 Prozent der Kinder bei nicht verheirateten Paaren auf oder, was noch öfter der Fall ist, bei alleinerziehenden Müttern. In Belmont verdient ein Durchschnittshaushalt 163.000 Dollar pro Jahr, fast doppelt so viel wie 1960. In Fishtown dagegen stagnieren die Löhne. Jeder achte erwerbsfähige Mann hat es aufgegeben, nach Arbeit zu suchen, das heißt, er taucht auch in keiner Arbeitslosenstatistik mehr auf.

Immer weniger Brücken

Belmont und Fishtown: Für den Sozialwissenschaftler Charles Murray sind es Chiffren, Symbole für die wachsende Kluft in den USA. Er überzeichnet wohl ein wenig, doch beide Orte gibt es wirklich. Der eine, fahrradfreundlich und umweltbewusst, liegt im Speckgürtel von Boston. Der andere, geprägt von Reihenhäusern und hässlichen Stromleitungen, grenzt an Philadelphia. Fünf Prozent der Amerikaner, so Murray, leben in betuchten Enklaven à la Belmont, und etwa 20 Prozent leben in Problemvierteln wie Fishtown. Das Alarmierendste an dem Befund ist, dass die Brücken, die von einem Biotop zum anderen führen, immer weniger werden.

Belmonts neue Oberklasse - Ärzte, Anwälte, Hochschulprofessoren, Manager, Architekten - vererbt ihren Kindern einen Bildungsvorsprung, den Fishtown nicht mehr aufholen kann. Ihre Kinder gehen nach Harvard, Stanford und Yale, wo sie untereinander heiraten und Nachwuchs zeugen, der ähnlich smart, clever und wohlhabend sein wird. "Die Isolation wird immer schlimmer", doziert der Soziologe, der am konservativen Think Tank American Enterprise Institute forscht.

Mythos "American Dream"

Murray trifft einen Nerv, der ein wichtiges Thema im Präsidentschaftswahlkampf abbildet. Barack Obama zieht mit dem Versprechen in den Wahlkampf, im Interesse der Mittelschicht zu altem Fairplay zurückzukehren, gegen die Exzesse der Wall Street und die Ungerechtigkeit entfesselter Märkte. Um Neid gehe es nicht, stellte der Präsident in der Rede zur Lage der Nation klar: "In diesem Land gönnen wir den Leuten finanziellen Erfolg. Wir bewundern ihn. Aber Amerikaner verstehen auch: Wenn ich Steuerernachlässe kassiere, die ich nicht brauche und die sich das Land nicht leisten kann, wächst entweder das Defizit oder ein anderer muss die Differenz ausgleichen."

Das Paradebeispiel: Mitt Romney, im Herbst womöglich Obamas Wahlgegner, zahlt nur 14 Prozent Steuern, weil er das Gros seiner Einnahmen durch Kapitalerträge bestreitet. Debbie Bosanek, Sekretärin des milliardenschweren Investors Warren Buffett, muss dagegen den Spitzensatz von 35 Prozent entrichten. Es war Buffett selbst, der vorschlug, die Schieflage zu korrigieren und Millionäre mit mindestens 30 Prozent zur Kasse zu bitten. Seitdem spricht Obama bei jeder Gelegenheit von der Buffett-Regel: Man könne entweder in Bildung investieren oder die Privilegien der Wall Street wahren, beides zusammen gehe nicht. Und um religiös motivierte Wähler zu erreichen, zitiert er aus der Bibel: Habe Jesus nicht gelehrt, dass viel geben müsse, wer viel bekomme?

Nicht im Fokus stehen Umverteilungsdebatten. "Die Leute wollen den Reichen ihr Geld nicht wegnehmen. Sie wollen nur eine bessere Chance, selber reich zu werden", sagt Andrew Kohut, Direktor des renommierten Pew Research Center. Vielmehr kreist der Diskurs um Chancengleichheit, um das Gründungscredo des "American Dream" - wonach ausdauernd harte Arbeit und ein Quäntchen Glück jedem den Aufstieg ermögliche.

Mobilität im Sinken

So selbstverständlich dieses Schlagwort in jede Politikerrede gehört, so ernüchtert müssen seine Anhänger zur Kenntnis nehmen, wie viel mythische Verklärung inzwischen mitschwingt.

In Europa ist es mittlerweile leichter, aus einfachen Verhältnissen heraus über Bildung Karriere zu machen. 2007, im Jahr vor dem Finanzcrash, war das Vermögen in den USA so ungleich verteilt wie zuletzt 1928, vor der Weltwirtschaftskrise.

Solange soziale Mobilität die Aussicht auf eigenen Erfolg verheißt, werfen selbst krasse Einkommensgräben den amerikanischen Optimismus nicht aus der Bahn. Um diese Mobilität aber ist es immer schlechter bestellt. Laut der Washingtoner Brookings Institution besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem breiteren Auseinanderklaffen der Einkommensschere und geringeren Aufstiegschancen.

Nach Untersuchungen des schwedischen Ökonomen Markus Jäntti bleiben 42 Prozent aller Kinder, die im unteren Fünftel der Wohlstandspyramide aufwachsen, zeitlebens in diesem Segment - in Murrays Fishtown. In Dänemark ist es bloß ein Viertel. (DER STANDARD Printausgabe, 25.2.2012)