DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe Gerechtigkeit

Wo haben sie ihr Zuhause? Was ist ihre Geschichte? Müssen sie Angst vor der Polizei haben? Kommt das, was sie bekommen, ihnen zugute?

Foto: Der Standard/matthias cremer

"Das Argument Bettelmafia kommt gern, wenn es darum geht, nicht mehr solidarisch zu sein mit jenen, die viel weniger haben", sagt Robert Sommer von der Wiener Bettellobby.

Foto: Der Standard/matthias cremer

An schlechten Tagen gebe ich gar nichts. Da will ich nichts wissen. Bin genervt. Ziehe mir die Mütze ins Gesicht, halte die Hände in den Manteltaschen vergraben und den Blick stur zu Boden. Ich schaue nicht hin, laufe auf dem Weg zur Arbeit einfach an ihnen vorbei, weiter zur U-Bahn, an der nächsten Haltestelle wieder raus, nehme den anderen U-Bahn-Ausgang, wechsle manchmal die Straßenseite, um nicht konfrontiert zu sein. Ich habe auch Stress, denke ich, auch Probleme, auch nicht so viel Geld. Es ist wie ein Spießrutenlauf durch mein schlechtes Gewissen.

An guten Tagen krame ich schon weit vor dem Supermarkteck in meiner Tasche, finde ein paar Münzen und gebe ein oder zwei Euro, manchmal nur 50 Cent. Sage "Hallo, geht's gut?", obwohl ich keine Antwort erwarte. " Danke schön, danke schön", sagt der lächelnde Mann mit dem Pappschild (auf dem mit Filzstift "Danke" geschrieben steht) zurück. Und verbeugt sich. Er tut das alles auch, wenn ich ihm nichts gebe. Er ist mir so vertraut wie die Kassiererin drinnen im Supermarkt, vor dem er fast täglich viele Stunden steht. Seit wann eigentlich? War er schon immer da? Ich kenne die Furchen in seinem Gesicht, die dunklen Augen, den Schnauzbart, den verfilzten roten Schal, den ausgewaschen blauen Parka, die zögerliche Haltung seiner linken Hand, die er aufhält, auch im Winter ohne Handschuhe. Eine Wollmütze, die aussieht wie eine zu groß geratene Kinderhaube, hängt ihm über beide Ohren. Wenn er sie im Winter trägt, sieht er aus wie ein treuherziger, geprügelter Hund.

Kurz vor dem U-Bahn-Ausgang geht dann der Schwarzafrikaner im Rückwärtsschritt mit mir mit, hält mir dabei seinen Stapel frischer Augustin-Ausgaben unter die Nase. Eigentlich flirtet er, nicht nur mit mir. An guten Tagen kauf ich ihm eine ab und winke ihm von der Rolltreppe aus noch einmal zu. Dann geh ich raus auf die Straße, um die nächste Ecke. Ja, heute steht sie da, die junge Frau. Und nicht der Typ. Sie, mit dem schönen Lächeln, unaufdringlich und doch eindringlich hält sie die Zeitung in einer Klarsichthülle vor ihren Körper wie einen Schutzschild, davor hineingesteckt das Foto eines Kleinkindes. Ihres? Wahrscheinlich. Wie alt ist sie? Noch jung. Auch ihr Gesicht ist so vertraut wie das von jemandem, den man aus dem Fernsehen kennt. Wie lange steht sie schon da? Ein, zwei, drei Jahre?

Wo schlafen sie?

Und zum Schluss, kurz vor dem Büro, noch der kleine Typ mit Schnauzbart. Immer gut gelaunt und lustig, nie beleidigt, wenn ich sage: "Heute hab ich kein Kleingeld. Nächstes Mal!" Der Einzige, der Deutsch spricht, ein Österreicher. "Meine Bettler", denke ich. Wie vermessen, so, als ob sie mir gehörten. Aber das sind sie, die Menschen, die irgendwann da waren, in dieser Stadt, und auch in meinem Leben. Ihnen gebe ich manchmal ein bisschen Geld. An sie muss ich denken, wenn es draußen minus acht Grad hat und in der Nacht noch viel kälter wird.

Wo schlafen sie? Wo haben sie ihr Zuhause? Was ist ihre Geschichte? Müssen sie Angst vor der Polizei haben? Vor Passanten? Haben sie genug zum Überleben? Kommt das, was sie bekommen, ihnen zugute? Gibt es die Bettelmafia? Soll ich überhaupt etwas geben? Oder es besser an karitative Einrichtungen spenden? Was ist richtig? Was gerecht?

Lächeln, ohne dass es lustig ist

Es ist nicht mehr ganz so kalt, wie es schon war. Ana (Name geändert) steht endlich wieder da, mit ihrem hübschen Gesicht und den wasserstoffblond gefärbten Haaren unter einer schwarzen Haube versteckt. Ich hatte sie schon länger nicht gesehen. Eigentlich war ich froh, dachte: "Gut, dass sie bei den eisigen Temperaturen nicht den ganzen Tag auf der Straße stehen muss." Als wir uns zum Interview treffen, kniet keine zwei Meter neben ihr eine ältere Frau mit Kopftuch auf einem kleinen Stück Karton und wiegt ihren Oberkörper vor und zurück.

Die Passanten schauen schnell weg oder gehen noch rascher vorbei als sonst. Ana lächelt trotzdem, wie sie immer lächelt, aber lustig fand sie das nicht, wie sie später erzählen wird. Sie hatte deswegen an diesem Tag nur fünf Euro verdient, stand aber schon mehr als zwei Stunden an ihrem Platz. Immer wieder muss sie ihn verteidigen, es sei ein guter Platz, sicher und viel frequentiert, hier kennt sie die Leute. Und die Leute kennen sie.

Scham und Wucherzinsen

Ana kommt aus einem Dorf in der Ostslowakei nahe der ungarischen Grenze und im Wochenrhythmus abwechselnd mit ihrem Mann nach Wien zum Betteln. Sie kommen dienstags und fahren freitags wieder nach Hause. Viereinhalb Stunden, meist mit dem Zug, manchmal mit dem Auto, wenn sie eine Mitfahrgelegenheit haben. Aus ihrem Roma-Dorf kommen viele nach Österreich oder Deutschland. Ana und Marcus (Name geändert) haben zu Hause in ihrer Heimat wie die meisten Roma keine Arbeit. Mit zwei Kindern (sechs Jahre und sieben Monate alt) können sie von 130 Euro Sozialhilfe im Monat nicht leben. In Wien kommen an einem Tag bis zu 60 Euro zusammen, was nach viel klingt. Am Ende bleibt davon wenig.

Wegen ihres Sohnes war keiner von ihnen vergangene Woche hier. Das Baby musste mit schwerer Lungenentzündung ins Krankenhaus, erzählt Ana, und dort fünf Tage bleiben. Das hat zusätzlich 50 Euro Krankenhausgebühr gekostet. 50 Euro, die sie nicht haben. Ana verdient als Frau besser als ihr Mann. Sie spricht auch mehr als er, so als wäre sie froh, endlich erzählen zu können vom ausweglosen Kreislauf, in dem sie sich befinden: Geld ausborgen, um nach Österreich zu fahren, Zuggeld bezahlen, betteln, um es dann mit Wucherzinsen wieder zurückzuzahlen. Essen, Miete, Holz zum Heizen, Kleider für die Kinder, Windeln. Für das meiste fehlt Geld.

Ihr Ungarisch klingt wie ein eindringlicher Singsang, wo Lachen und Weinen nicht weit auseinanderliegen. Sie war 15 und hat eine Schneiderlehre gemacht, als sie mit ihren Eltern zum ersten Mal nach Wien kam. Zum Betteln. Zuerst am Mexikoplatz und später in der U-Bahn. Sie hat sich furchtbar geschämt, sagt die heute 26-Jährige. "Es kommt immer etwas dazwischen", sagt Ana, wenn sie über Pläne für eine andere Zukunft spricht. Im Moment ist es die Krankheit des Kleinen.

Eine hohe Frustrationstoleranz

Marion Thuswald beschäftigt sich in ihrer Diplomarbeit aus dem Jahr 2008 zum Thema "Betteln als Beruf?" mit den Praktiken von Bettlerinnen in Wien. In der 250 Seiten umfassenden Studie hat Thuswald einen Kriterienkatalog für kompetentes Betteln entwickelt, den Ana aus der Ostslowakei ziemlich genau erfüllt. Da steht unter anderem: "Die kompetente Bettlerin wählt einen Arbeitsplatz, der Schutz und Sichtbarkeit bietet. ... Sie etabliert einen Stammplatz. ... Sie hält den Kontrakt ein, der zurzeit für Wien gilt: Schonverhalten, nicht aufdringlich, aggressiv betteln, nicht zu demütig betteln. Sie wirkt auf die Arbeit konzentriert. ... Die kompetente Bettlerin wirkt selbstbewusst. ... Sie glaubt an die Legitimität ihres Anliegens und daran, dass es Menschen mit Herz gibt ... Sie wirkt authentisch und ehrlich ... Sie hat Menschenkenntnis ... Sie reagiert sichtbar und angemessen auf die Gebenden ... Sie verfügt über eine hohe Frustrationstoleranz etc."

Wer sich Thuswalds Arbeit zu Gemüte führt, hat keinen Zweifel mehr, dass Betteln, wie oft fälschlicherweise angenommen, keine einfache Sache ist: "Bettlerinnen müssen, um zu Geld zu kommen, ihre Zeit und Kraft, ihr Wissen und ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten anwenden. Betteln bedeutet Mühe und Anstrengung." Trotzdem sagt Ana auf die Frage, ob Betteln ihr Beruf wäre: "Nein. Wer arbeitet, hat es meist warm und muss sich nicht genieren!"

Übernachten im Abbruchhaus

"Es gibt nichts anderes" , sagt auch Anas Mann zwei Wochen zuvor in einer stillen Ecke der Redaktion auf die Frage nach Alternativen. Natürlich wünscht er sich einen Arbeitsplatz, um der Bettelroutine in Wien zu entkommen. Das bedeutet nämlich: Um sieben aufstehen, um acht steht er auf dem Platz, alle zwei Stunden geht er sich kurz aufwärmen, abends setzt er sich gern in die Universität, isst, was er sich beim Billa gekauft hat: Wurst und Brot. Dann fährt er schlafen. Heute hat es draußen acht Minusgrade, und die rote Haut an seinen Händen, die einen Pappbecher Kaffee halten, hat sich auch drinnen kaum verändert. Handschuhe trägt er nicht, weil er keine hat.

Auf die Frage, wo er in Wien übernachte, sagt er leise: " Darüber möchte ich lieber nicht reden!" Wegen irgendwelcher Hintermänner? Nein, weil er sich geniert. Sie schlafen in einem Abbruchhaus am Stadtrand im zweiten Bezirk, in dem es nichts gibt außer ein paar schäbige Matratzen auf dem Boden. Ana schläft dort auch, deshalb kommt sie nie allein nach Wien, weil das zu unsicher wäre, sondern immer mit ihrer Mutter. Von der Polizei, sagen beide, würden sie meist in Ruhe gelassen. Obwohl auch in Wien die Bettelbestimmungen verschärft wurden. 1300 Bettler gibt es in Österreich, so die Schätzungen des Innenministeriums.

Selbstorganisation

"Alle Zahlen, die herumschwirren, sind sehr wahrscheinlich falsch", sagt Robert Sommer von der Wiener Bettellobby, ein Verein mit dem Ziel, das Grundrecht auf Betteln zu verteidigen: "Da ist zu viel Bewegung im System, das macht eine Erfassung unmöglich." Auch ist immer wieder ist die Rede von der Bettelmafia, die den Großteil der Gelder, die in Österreich erbettelt werden, einstreift. "Sicher gibt es Abhängigkeitsverhältnisse", erklärt der Bettelexperte. Es gehe hier um eine Selbstorganisation ganzer Roma-Dörfer: "Die kann demokratisch oder hierarchisch sein." Aber sich zu organisieren bedeute noch nicht automatisch eine kriminelle Handlung.

Sommer spricht damit vom Grat, auf dem sich Menschen wie Ana und Marcus bewegen müssen, die sich manchmal mit Familienmitgliedern oder Nachbarn zusammentun, manchmal mit einem Auto mitfahren (und vielleicht zu viel dafür zahlen), sich Geld borgen von denen, die welches haben, und das Geld mit Wucherzinsen zurückzahlen müssen. "Das Argument Bettelmafia kommt gern, wenn es darum geht, nicht mehr solidarisch zu sein mit jenen, die viel weniger haben", sagt Sommer über das Phänomen, das er zunehmend auch in linksliberalen Kreisen beobachtet. Er nennt das Sozialchauvinismus.

Angst vor Poliziekontrollen

In Wien war aggressives Betteln und Betteln mit Kindern schon länger strafbar. 2010 wurde auch "gewerbsmäßiges Betteln" verboten. Aber was heißt das? Ist das, was Ana und Marcus machen, " gewerbsmäßig"? Wahrscheinlich. In vielen Bundesländern gelten mittlerweile generelle Bettelverbote. Wie haben sich die ausgewirkt? " Zweifach", laut Sommer. Geschäftsstraßen (auch in Wien) sind heute praktisch Bettler-frei. Und: Die Anzahl der illegalen Straßenzeitungsverkäufer ist stark gestiegen, aus Angst vor Polizeikontrollen.

Christian ist kein "falscher Augustin". Wenn man ihn anspricht, zückt er seinen Ausweis. Die Straßenzeitung hat der gebürtige Wiener schon verkauft, als sie noch 20 Schilling gekostet hat. Das ist mehr als zehn Jahre her. Christian ist kein Mensch der vielen Worte, gibt aber trotzdem bereitwillig Auskunft. Früher einmal war er Schlosser, hat sogar zwei Gesellenbriefe, dann ging Firma in Konkurs, anderswo hat es nicht geklappt. Eine Zeitlang hat er sicher zu viel getrunken. Im Gegensatz zu anderen wirkt Christian auf eigene Weise zufrieden mit dem, was er macht. Ihm wurden hier auf der Straße schon Jobs angeboten, dann hat er eine Zeitlang bei Saturn im Lager gearbeitet, später im Verkauf. Dann wollten sie ihn an die Kassa setzen.

"Aber mit der Kassa", sagt Christian durch seinen blonden Schnauzer," wollte ich nichts zu tun haben." Das wäre Verantwortung, die will er nicht. Punkt. Sein Leben hat er dennoch ganz schön gut im Griff. Es beginnt täglich, wenn er um 4 Uhr morgens mit seinem Hund Gassi geht, den bringt er dann zu einem Freund in den zehnten Bezirk. Er arbeitet gern vormittags und hat kaum Probleme mit Leuten: "Da darf man kein fades Gesicht zeigen." Falls jemand mault: "Da rein, und da wieder raus" , sagt er und zeigt mit dem Finger auf seine Ohren.

Früher rot, heute blau

Findet er sein Schicksal ungerecht? Christian zuckt gern mit den Schultern, wenn er etwas gefragt wird. "Schau", sagt er, obwohl er sonst per Sie ist: "Die Politiker sind alle Deppen. Außer der Strache." Mit dem hat er schon gesoffen. Früher hat er Rot gewählt, heute die Blauen. Seit 2004 hat er eine kleine, leistbare Wohnung in der Leopoldstadt, bekommt Sozialhilfe, macht manchmal kleine Nebenjobs, und was er mit den Augustin-Verkäufen verdient, spart er: "Wenn die Zeiten einmal schlecht werden."

Familie? Ja, nickt er, sein Hund. Das reicht. Trotzdem ist er ein umgänglicher Charakter, holt beim Billa Jause für die Trafikantin nebenan, im Fachgeschäft hilft er aus, wenn Flohmarkt ist. Am ersten halbwegs wärmeren Tag spaziert er mit einem braunen Papiersack die Straße entlang. "Botendienst?", frage ich. "Nein", sagt er und hält mir den offenen Sack unter die Nase, es riecht nach frischem Waschmittel, ein oranges Button-down-Hemd, darunter zwei Pullis: "Alles für mich! Vom Geschäft, in dem ich helfe", sagt er und zeigt hinter sich. Gestern hatte er seinen 37. Geburtstag. An den eisigen Tagen war er nie zu sehen, da blieb er lieber zu Hause."Schau", sagt er wieder: " Ich bin mein eigener Chef!"

550 Augustin-Verkäufer sind zurzeit in Wien registriert. "Damit sind unsere Ressourcen komplett erschöpft", sagt Reinhold Schachner, einer von drei Redakteuren des Wiener Straßenzeitungsprojekts, das sich ausschließlich aus Eigenmitteln (Zeitungsverkauf und Spenden) finanziert und mittlerweile vor 16 Jahren unter anderem vom Bettellobby-Macher und Augustin-Chefredakteur Robert Sommer mitbegründet wurde. Ein Drittel der Verkäufer sind Österreicher, ein weiteres Drittel Osteuropäer, das letzte Drittel Afrikaner. Die Straßenzeitung (bitte nicht "Obdachlosenzeitung" sagen!) Augustin wird in einer Auflage von 30.000 Stück gedruckt, die dank des weitreichenden Vertriebsnetzes tatsächlich unter die Leute kommt. Derzeit herrscht also Aufnahmestopp. Heißt: Wer Augustin-Verkäufer werden will, muss erst einmal warten.

"Wait and see"

Warten muss Kamil (Name geändert) schon länger. Zwar nicht mehr darauf, dass er den Augustin verkaufen darf, das macht der 32-jährige Nigerianer bereits seit drei Jahren. Sondern auf seinen Asylbescheid. Etwa 50 Exemplare holt er sich wöchentlich im Lager in der Reinprechtsdorfer Straße im fünften Bezirk. Mit denen hat er dann je nach Geschäftsgang ungefähr vier, fünf Tage zu tun. 2,50 Euro kostet eine Ausgabe. Seine Kunden geben ihm manchmal drei Euro und wollen kein Rückgeld, andere geben ihm 50 Cent oder einen Euro einfach so, und wieder andere geben ihm 1,50 Euro und wollen aber die Zeitung dazu. Dann hat er ein schlechtes Geschäft gemacht, denn Kamil muss jedes Exemplar um 1,25 Cent kaufen. Alle zwei Wochen erscheint eine neue Ausgabe. Das heißt, wenn er an guten Tagen 15 Zeitungen verkauft, bleiben ihm 18 Euro 75 Cent, an schlechten Tagen bleibt ihm weniger. Der Augustin sei trotzdem eine super Sache und für ihn die einzige Chance, etwas zu verdienen, weil er als Asylantragsteller keine Arbeitsgenehmigung hat. Er hat seinen festen Stammplatz in der U-Bahn-Station und seine Stammkunden, er redet die Menschen an, scherzt, lacht, performt und wirkt viel extrovertierter, als er beim Interview ist.

"Wenn ich schlecht drauf bin, kann ich gleich zu Hause bleiben", sagt er sehr ernst. Ohne die 290 Euro, die er von der Caritas pro Monat bekommt, ginge gar nichts, damit bezahlt er die Miete für seine Einzimmerwohnung im zehnten Bezirk samt Stromrechnung. Am Wochenende schaut er Fußball, am liebsten allein. Freunde, sagt der stille, stattliche Typ in Jeans und Daunenjacke, hat er nicht viele. Er raucht nicht, trinkt nicht. Will keine Probleme, unabhängig bleiben. Warten. "Wait and see", sagt er. Drei Wochen dauerte sein Trip von Nigeria nach Österreich, er war allein unter Fremden unterwegs, zunächst auf dem Boot, dann in Lastwagen, er hatte keine Ahnung, wohin es geht, und landete in Traiskirchen. Familie habe er keine mehr in Afrika, man spürt, dass er nicht mehr viel gefragt werden will. Afrika habe viele Probleme: Gewalt, Korruption, Hunger und Diktaturen. Wir rennen um unser Leben, sagt er auf Englisch, solche wie mich gibt es tausende. Er versuche, positiv zu bleiben. Tabletten mag er nicht. Beten sei seine Medizin. Wenn er kein Asyl bekommt, muss er gehen. Gesetz ist Gesetz."Man kann Menschen nicht zwingen zu geben", sagt Kamil am Ende, "auch wenn sie Geld haben!"

Gerechtigkeit

Meine Bettler. Sie stehen, beobachten, warten, denken nach, lernen und stellen sich Fragen. Wer gibt? "Alte Leute geben gerne", sagt Kamil, "Studenten haben selbst kein Geld, sie geben nur manchmal." "Meine Frau bekommt mehr, weil sie sympathischer aussieht als ich und lächelt", sagt Marcus. Sogar wissenschaftliche Studien geben ihm recht. Geben Reiche mehr als Arme? " Die geben keinen Cent", sagt Ana: "Wer im Pelz kommt, gibt gar nichts", weiß sie aus ihrer Erfahrung.

Ist das Leben ungerecht? Ja. Aus ihrer Perspektive sicher. Die Menschen, die täglich an ihnen vorbeigehen, etwas geben oder auch nicht, die haben eine Arbeit, eine warme Wohnung, genug, um Essen und Kleider zu kaufen, ihre Kinder zu versorgen. Sie sind krankenversichert, haben dicke Handschuhe und warme Jacken, wenn es kalt wird. Christian steht heute nicht mehr da, der wird gerade seinen Hund abholen, Ana auch nicht, die ist sicher schon auf dem Weg zurück in die Ostslowakei. Vielleicht reicht das Geld diese Woche für die Sauerstoffmaske, die ihr kleiner Sohn dringend bräuchte? Kamil ist auf dem Weg zur Verkäuferbesprechung in die Augustin-Redaktion und freut sich aufs Wochenende, da spielt "seine" Admira gegen Mattersburg.

Nur der Typ am Billa-Eck mit der Dackelhaube steht in der Spätnachmittagsdämmerung noch immer da. "Woher kommst du?", frage ich langsam. Er schüttelt den Kopf, kramt in seiner Jackentasche und zeigt mir einen blauen Zettel, der an seinen Faltstellen fast durchgerissen ist: "Lieber Mensch!", steht da drauf, "Meine Frau ist schwer krank, und wir können uns keine Medikamente leisten ..." Ich habe auch einen Zettel für ihn, auf dem (auf Rumänisch) steht, dass ich ihn gern interviewen würde. Er schüttelt der Kopf und lächelt. Vielleicht kann er nicht lesen? Zögerlich hält seine linke Hand auf und steckt den Zettel wieder in die Tasche. "Nächstes Mal!", sage ich müde. "Danke schön, danke schön" , sagt auch er müde, verbeugt sich. Jetzt nach Hause, denke ich. Montag ist wieder ein neuer Tag, vielleicht ein guter. (Mia Eidlhuber, DER STANDARD, Printausgabe 25./26.02.12)