"Eigenwilliger" Aufklärungsunterricht und kein spezieller Schutz für Opfer sexueller Gewalt - nur ein Ausschnitt der vielen Probleme, die Wien zu zögerlich anpacke, sagt Sozialpädagoge Wanke.

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Manche Verantwortliche boykottierten sogar die Prävention von Missbrauch, beschreibt Wanke die Wiener Situation gegenüber Kerstin Scheller.

Standard: Kinderpsychiater Ernst Berger sagt, dass es in Wiener Heimen bis in die 1990er-Jahre "systematischen Sadismus gegeben habe. Sie haben in den 1980er-Jahren als Erzieher in einer sozialpädagogischen Einrichtung gearbeitet. Was haben Sie erlebt?

Wanke: Als ich 1981 begonnen habe zu arbeiten, gab es hauptsächlich Großheime, und dort kann es natürlich eher zu einer Art von Pädagogik kommen, die nicht so sehr am Individuum ausgerichtet ist, sondern die Kinder mehr als eine Masse gesehen hat. Es gab nichts Persönliches, das Kind ist wie eine Nummer behandelt worden. Ich hatte als junger Erzieher große Probleme mit der damals dort praktizierten Pädagogik, zum Beispiel Gehen in Zweierreihen. Meines Erachtens sprach nichts dagegen, Kinder ab einem gewissen Alter alleine einkaufen gehen zu lassen. Deshalb hat mich der Direktor wegen Verletzung der Aufsichtspflicht angezeigt, weil meine Erlaubnis nicht zu seinem autoritären, totalitären System gepasst hat.

Standard: Großheime wurden inzwischen aufgelöst. Laut Psychiater Berger hat sich damit das Problem des autoritären Führungsstils aber nicht erledigt. Stimmt das?

Wanke: Nein, ganz aufgelöst hat es sich nicht, aber durch mehrere Heimreformen hat sich die Situation verbessert. Anstelle der Heime wurden Wohngemeinschaften geschaffen. Heute wird die Individualität des Kindes weit mehr geachtet. Das ändert aber nichts daran, dass sich nicht auch die innere Haltung des Pädagogen, der Pädagogin ändern muss. Wenn nicht, wird der Erzieher auch in einer WG weiterhin dem Kind vorschreiben, was gut ist.

Standard: Inzwischen arbeiten Sie nicht mehr als Erzieher, sondern unter anderem auch bei der Kinder- und Jugendanwaltschaft in Wien, haben dort die Soforthilfe aufgebaut. Sind Übergriffe von Erziehern heute die Ausnahme?

Wanke: Ich würde nicht sagen, dass es sich bei den aktuellen Fällen, die in Wien gemeldet werden, um Einzelfälle handelt. Manche Systeme wirken noch immer so auf Kinder ein, dass sie dadurch geschädigt werden.

Standard: Könnten Sie das an konkreten Beispielen verdeutlichen?

Wanke: Es gibt etwa Fälle von eigenwilligem Aufklärungsunterricht. Da wird gemeinschaftlich Onanie betrieben, oder es werden sexuelle Zärtlichkeiten ausgetauscht. Was ich bei meiner Arbeit beim Verein Limes, einem Verein für jugendliche Sexualstraftäter, erfahren habe: Ein Zehnjähriger vergreift sich sexuell an seiner um drei Jahre jüngeren Schwester. Beide kommen aus der Familie, dann aber in dieselbe Wohngruppe. Das ist aus meiner Sicht eine Fortsetzung der Übergriffe. Im konkreten Fall doppelt schlimm, weil sich dieser Bub in der Einrichtung an weiteren Mädchen vergriffen hat. Meines Wissens gibt es weder für minderjährige Täter noch Opfer spezielle stationäre Einrichtungen in Österreich. So weit ist die Pädagogik noch nicht. So passiert es, dass eine Opfer- und eine Täterpersönlichkeit in derselben Einrichtung unterkommen. Und die beiden werden sich finden. Denn es gibt keine 24-Stunden-Kontrolle.

Standard: Ist aktuell überhaupt Prävention ein Thema, oder wird nur Vergangenes aufgearbeitet?

Wanke: Mein Eindruck ist, dass ein offensiver Umgang mit dem Thema leider noch die Ausnahme ist. Das gilt vor allem für die vorgeschalteten pädagogischen Leiter und Fachaufsichten. Die Verantwortlichen erlebe ich vorsichtig bis zurückhaltend, manchmal sogar boykottierend.

Standard: Aber ist eine externe Kontrolle nicht unumgänglich?

Wanke: Ja. Behörden könnten vorgeben, was sie sich von einer modernen und zeitgemäßen Pädagogik erwarten. Jene Einrichtungen, die diese Vorgaben erfüllen, könnten dann mehr Fördermittel erhalten. Es braucht aber auch externe Beschwerdesysteme, damit das Kind parteiliche Unterstützung bekommt. Der neue Ombudsmann für Heimkinder der Kinder- und Jugendanwaltschaft übernimmt damit neben der Prävention auch die Funktion einer externen Kontrolle, ob zeitgemäße Pädagogik umgesetzt wird. (Kerstin Scheller, DER STANDARD, Printausgabe, 23.2.2012)