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"Insbesondere bei Jugendlichen mit eingewanderten Eltern - also der zweiten Generation,gibt es ein klares Arbeitsmarktproblem. Das heißt, sie kommen, obwohl sie eine Ausbildung haben, nicht in Beschäftigung."

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August Gächter vom Wiener Zentrum für Soziale Innovation

Foto: Zentrum für Soziale Innovation,

Etwa 75.000 Jugendliche in Österreich besuchen keine Schule, gehen keiner Arbeit nach und befinden sich nicht in beruflicher Fortbildung. Besonders stark betroffen sind junge Menschen mit Migrationshintergrund. Demnach fällt beinahe jeder fünfte Migrant im Alter zwischen 16 und 24 Jahren in die Gruppe der "NEET-Jugendlichen" ("Not in Education, Employment and Training"), so die neueste Untersuchung der Statistik Austria. Die Autoren der Studie sehen vor allem bei den Schulen Handlungsbedarf, der Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz fordert höhere Strafen im Schulpflichtgesetz. Beides ist falsch, sagt der Sozialwissenschaftler August Gächter vom Wiener Zentrum für Soziale Innovation.

Mit daStandard.at sprach Gächter über die richtigen Fragen, die Forscher stellen müssen, und über die Diskriminierung der zweiten Generation, über die in Österreich niemand reden will.

daStandard.at: Kennen Sie die Studie über jugendliche Migranten ohne Ausbildung, Betreuung oder Job, die seit Tagen für Aufregung sorgt?

August Gächter: Ja, ich kenne die Studie und die Autoren auch. Die Studie ist methodologisch einwandfrei, aber wenn ich an Bacher und Thamesberger (Autoren der Studie, Anm.) eine schriftliche Replik geschrieben hätte, hätte sie den Titel gehabt "Der falsche Teil der Wahrheit". Es ist natürlich wahr, was da herauskommt, nämlich dass 40 Prozent von den Jugendlichen, die nicht in Ausbildung sind und nicht beschäftigt sind, entweder selbst eingewandert sind oder ihre Eltern. Aber dieser Fokus auf die NEET-Gruppe, das ist eine Modeerscheinung und lenkt eigentlich von dem ab, was wirklich interessant ist, nämlich: Wie viele sind in Beschäftigung und wie viele sind in Ausbildung? Man muss die Jugendlichen immer in diese drei Gruppen einteilen: Beschäftigung, Ausbildung und nichts davon. Die, die nichts davon sind - da hinzustarren und zu sagen, diese Rechtsgröße ist die eigentliche Information, das ist eine Ablenkung von den wirklichen Fragen.

daStandard.at: Was sind die wirklichen Fragen?

Gächter: Welche Beschäftigungschancen haben sie, welche Bildungschancen? Und darum habe ich mir gedacht, die erste Frage, die man sich stellen muss, ist, ob der höhere Anteil der Jugendlichen, die nicht in Beschäftigung und nicht in Ausbildung sind, daher kommt, dass weniger in Beschäftigung oder weniger in Ausbildung sind. Das weiß die Untersuchung von Bacher und Thamesberger nicht. Die Autoren machen ziemlich weitreichende Schlussfolgerungen aus ihren Ergebnissen, haben aber vorher nicht die Frage beantwortet, ob es ein Bildungsproblem oder ein Arbeitsmarktproblem ist. Wenn man sich das anschaut, sieht man, dass bei den Jugendlichen, die im Ausland geboren sind, zur Hälfte das eine, zur Hälfte das andere Problem gegeben ist. Und bei den Jugendlichen, die nicht im Ausland geboren sind, sondern im Inland - aber beide Elternteile sind im Ausland geboren -, da ist es zur Gänze ein Arbeitsmarktproblem. Da ist es überhaupt kein Bildungsproblem. Diese haben die genau gleich hohe Bildungsbeteiligung wie Jugendliche, deren Eltern nicht eingewandert sind.

daStandard.at: Die zweite Generation hat also die gleiche Bildungsbeteiligung?

Gächter: Bacher und Thamesberger sagen "zweite Generation". Ich glaube, diese Wortwahl ist sehr irreführend, ich vermeide das.

daStandard.at: Was konkret heißt "Bildungsbeteiligung"?

Gächter: Bei den Jugendlichen, deren Eltern nicht eingewandert sind, ist ein Drittel in Bildung oder Ausbildung, und bei Jugendlichen, deren Eltern eingewandert sind, ist auch ein Drittel in Bildung oder Ausbildung. Und bei den Jugendlichen, die selbst eingewandert sind, ist nur ein Viertel in Bildung oder Ausbildung. Von den Jugendlichen, deren Eltern nicht eingewandert sind, sind knapp 60 Prozent beschäftigt. Von den Jugendlichen, deren Eltern eingewandert sind, ist es knapp die Hälfte, und von den Jugendlichen, die selbst eingewandert sind, sind etwas mehr als die Hälfte beschäftigt.

Und das heißt, es ist in erster Linie, insbesondere bei Jugendlichen mit eingewanderten Eltern - also der zweiten Generation, wenn Sie so wollen -, ein klares Arbeitsmarktproblem. Das heißt, sie kommen, obwohl sie eine Ausbildung haben, nicht in Beschäftigung. Das sieht man an den Arbeitslosenzahlen. Jugendliche, deren Eltern eingewandert sind, sind jene, die Arbeit suchen. Das ist ein Hinweis, dass es ein Arbeitsmarktproblem ist, da sie Schwierigkeiten haben, trotz Ausbildung Arbeit zu bekommen.

daStandard.at: Wieso ist es für diese Gruppe so schwierig, einen Arbeitsplatz zu bekommen?

Gächter: Weil ihnen die Arbeitgeber misstrauen. Weil die Bundesregierung und diverse Parteien und zum Teil auch die Sozialpartner und die Medien signalisieren, dass mit diesen Jugendlichen etwas nicht stimmt, und die Arbeitgeber bei diesen Jugendlichen sehr vorsichtig sind.  Gestern hab ich Schlagzeilen gelesen wie etwa: "Jeder 10. bricht die Schule ab" - das ist vollkommener Quatsch, Unsinn. Da stimmt in den Zahlen etwas nicht. Da wird dann wieder mit etwas verwechselt, das auf Englisch "Early School Leaver" heißt. Das sind Leute, die die Ausbildung früh beenden, und das wird in den deutschsprachigen Medien oft mit Schulabbrecher übersetzt. Jeder, der neun Jahre Schule absolviert hat, ist ein "Early School Leaver".

daStandard.at: Als Reaktion auf die Studie von Bacher und Thamesberger hat der Integrationsstaatssekretär einige Maßnahmen vorgeschlagen, unter anderem Strafen für Schulschwänzer. Was halten Sie davon?

Gächter: Die Sachen, die in der Aussendung des Staatssekretariats vorgeschlagen werden, sind eine höchst interessante Mischung. Eine von den vier vorgeschlagenen Maßnahmen aus dem Expertenkatalog ist die Möglichkeit, dass Schulabbrecher ihren Pflichtschulabschluss kostenlos nachholen können. Gute Idee, selbstverständlich, aber das sind nicht viele, das sind 4.000 bis 5.000 Leute in Österreich in der sogenannten zweiten Generation. Unter den Leuten, die in Österreich nie in die Schule gegangen sind, sondern nur im Ausland, sind das viel mehr, da sind das ungefähr 30.000, die sind aber weitgehend über 50 Jahre alt. Die interessieren dann nicht mehr. Und unter denen, deren Eltern nicht eingewandert sind, sind es ungefähr 12.000.

Dann der zweite Punkt mit den Jugend-Coaches, die es in Wien und in der Steiermark schon gibt - ja, gute Idee. Was mich bei diesen Maßnahmen trotzdem schon stört, ist diese komplette Konzentration auf den schwachen Rand. Ich meine, das ist schon klar, man muss denen, die da Schwierigkeiten haben, helfen, unter die Arme greifen. Aber dass man immer vergisst zu sagen, dass es auch den anderen Rand gibt, die, die extrem leistungsfähig in der Schule sind, die gibt es auch, und einen riesigen Mainstream in der Mitte, der nicht auffällig ist. Hier geht es also immer um wenige tausend Leute, das ist eigentlich kein Massenproblem. Es ist schon gut, wenn die Politik sich dem widmet, aber das sollten nicht diejenigen sein, mit denen sie Presseaussendungen bestreiten. Das ist Ablenkung.

daStandard.at: Was ist mit den anderen vorgeschlagenen Maßnahmen des Staatssekretärs?

Gächter: Der dritte Punkt, der etwa lautet "Auch die Betreuung beim AMS wird Schritt um Schritt verbessert", ist extrem höflich formuliert, meint aber, dass das AMS extrem inkompetent ist. Das stimmt auch. Wenn Sie zum Beispiel zum AMS gehen und eine Auskunft auf Englisch haben wollen, werden Sie dermaßen blöd angeredet, weil die dort kein Englisch können.

daStandard.at: Müssten die Mitarbeiter des AMS Englisch können Ihrer Meinung nach?

Gächter: Ich denke, insbesondere auch in Wien, wo mindestens die Hälfte einen eingewanderten Elternteil hat, ist es nicht mehr zeitgemäß, sich im AMS darauf zu kaprizieren, nur Deutsch zu können. Wir brauchen hoch qualifizierte Einwanderung - aber auch die landen früher oder später beim AMS oder sogar ganz am Anfang. Und dann geht das nicht mehr. Also die Betreuung im AMS Schritt um Schritt verbessern? Ja, gute Sache, aber ich würde bitten, die Schritte möglichst rasch zu setzen. 

Am Schluss der Presseaussendung kommen dann noch verpflichtende Elterngespräche bei Schulpflichtverletzungen. Das betrifft aber die unter 15-Jährigen, das greift bei den 16- bis 24-Jährigen natürlich nicht mehr und hat mit unserem Problem daher eigentlich nichts zu tun.

daStandard.at: Aber das wäre eine präventive Maßnahme, damit es nicht zum Schulabbruch kommt.

Gächter: Aber die Logik hier ist, dass das Problem daraus besteht, dass die Leute keinen Schulabschluss zusammenbringen. Das ist aber, wie wir an den Zahlen gesehen haben, ein ganz winzigkleines Problem. Ein winziges Problemchen. Und zwei Drittel dieses Problems sind die Inländer.

daStandard.at: Es wird Sie freuen, dass eine der geforderten Maßnahmen des Integrationsstaatssekretariats Motivforschung ist.

Gächter: Ja, das finde ich auch eine gute Idee - aber umfassend, wirklich umfassend. Also nicht nur in der Familie herumstochern, sondern auch schauen: Was leisten die Lehrkräfte? Und zwar nicht nur, was leisten sie fachlich, sondern auch im sozialen Umgang mit den Schülern. Aber auch schauen: Wie geht es unter den Schülern zu, was ist da die Hackordnung, was kommt da an demotivierenden Einflüssen? Dann auch nachfragen: Was sehen die Jugendlichen, was bei den Eltern oder älteren Geschwistern beruflich herauskommt, obwohl sie sich in der Schule bemüht haben - auch nicht unbedingt motivierend in vielen Fällen. Eine konkrete statistische Erhebung würde ich absolut unterstützen, aber diese muss auch wieder umfassend sein in dem Sinn, dass man sich wirklich bemüht, alle relevanten Faktoren zu erheben und nicht nur ausgewählte, die in die eigenen Vorurteile hineinpassen.

daStandard.at: Kommen wir zu dem umstrittensten Punkt: Strafen für Schulschwänzer?

Gächter: Zum pädagogischen Wert von Strafe bin ich nicht in der Lage, etwas zu sagen. Ich habe heute nur in der Zeitung gelesen, dass 1.500 Euro angedacht sind. Das ist ein Mehrfaches von dem, was man beim AMS bekommt, wenn man diskriminiert wird, das erscheint mir disproportional.

daStandard.at: Wieso, glauben Sie, stürzt sich Staatssekretär Kurz auf die Schulpflichtverletzung und droht mit Strafe?

Gächter: Ich hab das komisch gefunden, dass er das zusammenmischt. Es passt nicht dazu, er nimmt irgendeinen Vorwand, um das hervorzukehren. Offenbar hat er das Gefühl gehabt, er muss in guter österreichischer Tradition wieder einmal mit dem Rohrstaberl herumfuchteln.

daStandard.at: Ausgehend von allen Daten, die uns momentan zur Verfügung stehen: Finden Sie, dass wir ein großes arbeitsmarkt- und bildungspolitisches Problem mit Migrantenkindern haben?

Gächter: Ich würde es andersherum sagen: Ich glaube, die sogenannte zweite Generation hat ein Problem, nicht wir. Und zwar mit den Arbeitgebern. Und mit dem AMS als Vermittler zwischen ihnen und den Arbeitgebern. Beim AMS gibt seit Herbst 2006 einen ganz langsamen, sehr allmählichen Prozess des Aufwachens. Aber auf der Arbeitgeberseite passiert das noch gar nicht.

daStandard.at: Was meinen Sie damit?

Gächter: In Österreich traut sich niemand zu sagen, dass die Arbeitgeber selbstverständlich diskriminieren.

daStandard.at: Warum wird das nicht ausgesprochen?

Gächter: Es hat bisher keine Studie gegeben, aber es ist jetzt eine ausgeschrieben. Das Sozialministerium lässt jetzt eine machen. In einem Jahr etwa wird man dann die Ergebnisse haben. Und meine Vermutung ist, es wird herauskommen, dass man, wenn man eingewandert ist, sich im Vergleich zu andern drei- bis viermal häufiger bewerben muss, bis man einen Job hat. (Olivera Stajić, daStandard.at, 22.2.2012)