Es war im Herbst 1992 in Berlin bei einer von Melvin Lasky, dem unvergesslichen Chefredakteur des Monats und dann des Londoner Encounters organisierten internationalen Veranstaltung, dass ich den seit zwei Jahren amtierenden "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik", Joachim Gauck, gehört und anschließend kennengelernt habe. Der ehemalige evangelische Pfarrer und Theologe aus der DDR hat uns alle mit seinem Referat über Aufbau und Arbeit des unsichtbaren Stasi-Netzes mit 90.000 hauptamtlichen Mitarbeitern und noch 1989 mit 173.000 " informellen Mitarbeitern", also Spitzeln und Zuträgern, tief beeindruckt. Zehn Jahre lang hat der integre und allgemein beliebte Mann das als "Gauck- Behörde" legendär gewordene Amt geleitet. Wer hätte damals gedacht, dass dieser heute 72-jährige Mann nach einer knappen Niederlage vor zwei Jahren gegen den inzwischen verschwundenen Christian Wulff doch durch einen parteiübergreifenden Konsens zum deutschen Bundespräsidenten gewählt werden würde? Ich kann und will meine persönliche Freude nicht verbergen.

Zusammen mit hunderttausenden anderen Antragstellern verdanke auch ich diesem einstigen Bürgerrechtler, dass mir einige Monate nach unserer Begegnung Akteneinsicht gewährt wurde. In der einstigen Stasi-Festung in der Normannenstraße wurden mir in zwei schmalen Schnellheftern die ersten Dokumente überreicht, die mir geholfen haben, im Lauf der nächsten Jahre das wahre Ausmaß meiner Bespitzelung durch Agenten, Kollegen und " Freunde" in Budapest und Wien zu entdecken.Glückliches Deutschland, wo nun zwei integre und hochbegabte "Ossis", Menschen die die rote Diktatur hautnah erlebt haben und trotz unterschiedlichen Werdegangs die Gefahr von rechts unbeugsam bekämpfen, die Staatsgeschäfte lenken werden.

Joachim Gauck und Angela Merkel sind Beispiele für die Erfolgsgeschichte des neuen demokratischen Deutschland. Auch heute sind übrigens die nicht so erfolgreichen Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetsatelliten oft mit der ungebrochenen Macht der Geheimdienste und mit dem Ringen um die Herrschaft über den Zugang zu den Lügen und Denunziationen einer nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit konfrontiert. Auch heute gilt die Meinung Joachim Gaucks in der Frage "Schlussstrich oder Aufarbeitung" : "Die entscheidende Herausforderung an uns Ostdeutsche ist, ob wir die Kraft und das Selbstbewusstsein aufbringen, vor unserer Geschichte nicht davonzulaufen, sondern uns ihren guten und schlechten Seiten zu stellen. Wir haben keine andere Vergangenheit einzubringen als diese Vergangenheit."

Die meisten postkommunistischen Staaten haben - außer der Tschechischen Republik - leider nicht diesen Weg eingeschlagen. Es gab und gibt aber glücklicherweise auch östlich von Deutschland große und integre Persönlichkeiten. Zu diesen gehören der dieser Tage 90 Jahre alt gewordene katholische Widerstandskämpfer, Auschwitz-Häftling und Exaußenminister Polens, Wladyslaw Bartoszewski, und der gleichaltrige, zweimal zum Präsidenten Ungarns gewählte liberale Bürgerrechtler Árpád Göncz. (DER STANDARD Printausgabe, 21.2.2012)