Unerwarteter Punkt des Kippens: Barbara Zeman.

Foto: Polleres

Reichenau an der Rax – "Nichts Aufregendes geschieht hier / nur werden wir zermahlen / zwischen den letzten Tagen die es / kleingeschnitten zu schlucken gilt / den staubigen Rest wäscht die Nacht / mir im Schlaf aus den Kleidern" heißt es in einem Gedicht, das der deutsche Autor Sascha Kokot beim fünften Literaturpreis Wartholz in Reichenau an der Rax vortrug. Es waren wuchtige, dem Pathos nicht abgeneigte Gedichte über eine gestundete Zeit, die "Unruhe in den Steinen" und jenes Sandkorn des Wandels, das im Uhrwerk der Zeitgeschichte und des Lebens – unbemerkt zunächst – seine Wirkung entfaltet, mit denen der Dreißigjährige am Wochenende den Lesereigen als Letzter der zwölf aus Deutschland, der Schweiz, Graz und Wien angereisten Finalisten beschloss.

Versteckspiele

Was den Ablauf der Veranstaltung betrifft, erinnert in Wartholz einiges an den Klagenfurter Bachmannpreis – und doch ist alles ganz anders. Zwar stellen sich auch im niederösterreichischen Kurort Autoren, nachdem sie ihre Texte vor Publikum gelesen haben, einer Jurydiskussion, im Gegensatz zum großen Kärntner Bruder kann beim Wartholzer Preis aber auch Lyrik eingereicht werden, und die aus Katja Gasser (ORF), Bernhard Fetz (ÖNB-Literaturarchiv), Konstanze Fliedl (Uni Wien) und Autor Franz Schuh bestehende Jury versteht sich mehr als eine die Texte behutsam begleitende Instanz denn als Türsteherin der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Leicht hatten es die Juroren heuer nicht. An den zwölf Texten, die es in die Endauswahl geschafft hatten (insgesamt 749 Beiträge waren eingereicht worden, 120 von einer Vorjury ausgewählte Texte waren schließlich an die Hauptjury gegegangen, welche die Endauswahl vorgenommen hatte), gab es handwerklich wenig auszusetzen. Noch nie war hier die Qualität der Beiträge so homogen und waren die Texte so ansprechend geschrieben. Keiner der Beiträge, die allerdings weder formal noch inhaltlich große Risiken eingingen, fiel wirklich ab – keiner stach deutlich hervor.Der Literaturpreis Wartholz (10.000 Euro) ging schließlich an die 1981 geborene Barbara Zeman, die in Wien Geschichte studiert und als Frühstücksköchin in einem Kaffeehaus arbeitet. Ihr Prosatext Garten handelt ähnlich wie Kokots Lyrik von einem jähen Punkt des Kippens. Aus der erhobenen, beinahe olympischen Position ihres Balkons beobachtet eine alte Frau, wie im nächtlichen botanischen Garten, den sie überblickt, ein Versteckspiel der anderen Art – fünf Männer wählen einen zu jagenden "Läufer" aus – zu blutigem Ernst wird.

Literarische Standbilder

Lesen kann man Zemans bildstarken Siegerbeitrag als Metapher für den Einbruch menschlicher Gewalt ins geschützte Geviert eines Paradiesgartens, als Studie über die Lähmung des Zusehenden oder, wie der Untertitel des Textes – Ansicht mit Frau und zerrissenem Mann vor Paradeisstaude – nahelegt, als literarisches Standbild des Sich-in-Sicherheit-Wähnens bei gleichzeitigem Ausgesetztsein. Mit dem Newcomerpreis (Veröffentlichung im Braumüller-Verlag) wurde die 28-jährige Julia Veihelmann, eine Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, die in Berlin Sinologie und Geschichte studiert, ausgezeichnet. Ihr lakonischer Text Curriculum Vitae konterkariert die Form des Lebenslaufs, in dem üblicherweise vermieden wird, Niederlagen und Lebensbrüche an die große Glocke zu hängen. Veihelmanns auf diversen Ebenen gescheiterter Ich-Erzähler kann und will mit einer geschönten Version seiner Lebensgeschichte nicht dienen. Der Publikumspreis (2000 Euro) ging an Kai Weyand und seinen satirischen Bestattungswesentext über einen Sarg auf dem Weg nach unten. Die beiden einmonatigen vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur gesponserten Aufenthaltsstipendien in Reichenau gehen, wie Ministerin Claudia Schmied (SPÖ), die das Wettlesen am Freitag auch eröffnet hatte, bei der sonntäglichen Preisverleihung bekanntgab, an Carolina Schutti und Claudia Tondl. "Große, besondere Projekte brauchen den persönlichen Einsatz", sagte Schmied, die ihrer Genugtuung darüber Ausdruck verlieh, dass das Kulturbudget des Bundes stabil bleibt, auf das private finanzielle Engagement anspielend, das den Wartholzer Literaturpreis ermöglichte. Fünf Jahre ist es her, dass Familie Blazek, die Schloss Wartholz besitzt und in der Schlossgärtnerei (wo auch die Lesungen stattfinden) ein Gartenbauunternehmen betreibt, den Preis ins Leben rief. Angesprochen auf die recht unterschiedlichen Felder von Literatur und Gartenbau meinte Unternehmer Christian Blazek bei der Preisverleihung: Bei beidem gehe es um das Säen, das Pflegen, das Wachsenlassen. Unrecht hat er damit nicht. (Stefan Gmünder, DER STANDARD – Printausgabe, 21. Februar 2012)