Berlin - Der kurze, aber überaus heftige Streit um die Nominierung von Joachim Gauck zum Konsenskandidaten für das Amt des deutschen Bundespräsidenten hinterlässt Schrammen im Verhältnis der Koalitionsparteien Union und FDP. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Stasi-Unterlagen-Beauftragte, der 2010 als parteiloser Kandidat von SPD und Grünen dem Koalitionskandidaten Christian Wulff in der Bundesversammlung unterlegen war, wurde jetzt auch von der FDP unterstützt, obwohl es in der Union starke Vorbehalte gegen ihn gegeben hat.
CDU warnt FDP vor Folgen
Der stellvertretende CDU-Fraktionschef Wolfgang Bosbach, Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestags, warnte die FDP am Montag vor den Folgen ihres Verhaltens: "Man sieht sich im Leben immer zweimal". Die Liberalen dürften sich zwar als eigenständige politische Kraft profilieren und von der gemeinsamen Linie abweichen. "Dann darf die Union aber bei anderer Gelegenheit auch mal eine eigenständige politische Sach- oder Personalentscheidung treffen", sagte der Abgeordnete. Unions-Fraktionsvize Michael Kretschmer hatte zuvor von einem "gewaltigen Vertrauensbruch" seitens der FDP gesprochen, der schwere Folgen für die weitere Zusammenarbeit in der Koalition haben werde. "Das Verhalten ist symptomatisch für den Zustand der FDP", sagte Kretschmer.
Entwicklungsminister verteidigt FDP-Vorgehen
FDP-Präsidiumsmitglied Entwicklungsminister Dirk Niebel hat das Vorgehen seiner Partei gegen massive Kritik aus der Union verteidigt: "Wir haben nicht gepokert, sondern eine klare Position bezogen, der sich alle anderen Parteien dann angeschlossen haben." Man sollte in die Entscheidung nicht zu viel hineininterpretieren, sagte der Minister im Deutschlandfunk. "Wir arbeiten vertrauensvoll in der Koalition zusammen. Wir müssen uns nicht gegenseitig drohen", fügte er hinzu. Es sei gut, dass sich die Union bewegt habe, weil Gauck in der Bevölkerung enormes Ansehen genieße. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Holger Zastrow sagte, seine Partei wolle die Koalition mit der Union fortsetzen. Die FDP habe die Koalition über den Streit um Gauck nicht platzen lassen wollen, sie sei aber der Auffassung gewesen, dass Gauck "der ideale Kandidat für ein liberal-konservatives Regierungsbündnis" sei.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte im ZDF, die Entscheidungsprozesse seien nicht leicht gewesen. Die Koalition habe aber einen gemeinsamen Auftrag. "Den erfüllen wir verlässlich." Es sei niemandem gedient, "öffentlich nachzukarten", betonte Gröhe. "Wir sind verlässlicher Koalitionspartner. Dabei bleibt es." Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, Fraktionschef in Schleswig-Holstein, sprach sich für ein Ende des Streits in der Koalition aus. "Wir sollten jetzt nicht zurückblicken im Zorn", sagte er, die Politik habe mit Gaucks Nominierung gezeigt, "dass wir handlungsfähig sind".
SPD: "Chance auf Neuanfang"
SPD-Chef Sigmar Gabriel erklärte, die Debatte um die Affäre des zurückgetretenen Präsidenten Wulff habe die Distanz zwischen Bevölkerung und Politik vertieft. Er freue sich deshalb, dass die Koalition nun ihren Fehler aus dem Jahr 2010 revidiere, als sie sich gegen Gauck ausgesprochen hatte: "Joachim Gauck ist eine Chance auf Neuanfang."
Grüne Ditfurth: "Prediger für die Mittelschicht"
Die Soziologin und Mitbegründerin der Grünen Jutta Ditfurth bezeichnete Gauck als einen "Prediger für die verrohende Mittelschicht". Deutschlands politische Klasse habe sich des "lästig geworden kleinbürgerlichen, korrupten Aufsteigers" Wulff entledigt, "während die viel größeren Geschäftemacher der Parteien weiter ungestört ihren Interessen nachgehen können." Dass CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne Gauck gemeinsam aufstellen, verrate, "dass uns noch mehr Sozialstaatszerstörung, noch mehr Kriege und noch weniger Demokratie drohen. Einen wie ihn holt man, um den Leuten die Ohren vollzuquatschen." (APA)