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Im vorwiegend von Türken bewohnten Stadtteil Kreuzberg in Berlin orter der Autor "eine groteske Karikatur des Lebens im eigenen Heimatland".

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"Arrival City" ist das Ergebnis einer dreijährigen Recherche an zwanzig solchen "Orten der Ankunft", also urbanisierten Siedlungen oder Stadtteilen, in denen sich weltweit der Übergang von der Land- zur Stadtbevölkerung vollzieht.

Landflucht

Stadt und Land - scheinbar gegensätzliche Lebensweisen, die in Wahrheit einander bedingen, ergänzen und stimulieren. "Das Dorf wirkt auf einen Außenstehenden festgefügt, zeitlos, ohne Bewegung oder Wandel und vom Rest der Welt isoliert. Wir ordnen es der Natur zu. Wir stellen uns einen angenehmen Lebensrhythmus vor, der von den Belastungen der Moderne frei ist." Die Realität sieht freilich ganz anders aus, wie Doug Saunders in seinem Buch eindrucksvoll anhand zahlreicher konkreter Lebensläufe vor Augen führt.

Das Dorf kann auch Schauplatz qualvoller Hungersnöte und lähmender Langeweile sein, ein Ort des "monotonen, furchterregenden Glücksspiels", wie etwa im chinesischen Dorf Liu Gong Li, dessen Bewohner 1995 beschließen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und ihren Heimatort in eine Stadt umzuwandeln. Der Übergang von Dorf zu Stadt vollzieht sich rasant, durch Zuzug aus der Umgebung kommt es zu einem explosionsartigen Bevölkerungswachstum, und was auf den ersten Blick wie ein wahllos zusammengewürfelter Slum aussieht, ist ein Ort brodelnder Geschäftigkeit und Lebensenergie, ein Ballungsraum, in dem es in erster Linie eine treibende Kraft ist, die den Lebens- und Arbeitsrhythmus vorgibt: Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die eigenen Kinder.

Migration im Pendelrhythmus

"Arrival City" räumt mit einigen herkömmlichen Mythen der Migrationsforschung auf, etwa mit der Idee, die Migration würde sich linear und in eine Richtung vollziehen, vom Land zur Stadt. In Wahrheit vollzieht sich die Migration zwischen Land und Stadt oft in einer Pendelbewegung, das heißt, die Menschen leben zwar in der Stadt, pflegen aber weiterhin die dörflichen Netzwerke, heiraten im Heimatdorf, überweisen Geld an Eltern und Verwandte und verharren mitunter ein Leben lang in einem Zwischenzustand zwischen einer ländlichen und einer urbanen Lebensweise; erst die nächste Generation kommt wirklich in der Stadt an.

Kreuzberg, die gescheiterte Ankunftsstadt

Saunders beobachtet und analysiert unterschiedliche gesellschaftliche und ökonomische Konstellationen und streift kulturelle Aspekte des Lebens, ohne zu exotisieren oder zu kulturalisieren. Interessant ist etwa der Vergleich zwischen den über Nacht aus dem Boden gestampften Stadtvierteln in Istanbul ("Gecekondu", von "gece", nachts, und "kondu", niedergelassen) und dem vorwiegend von Türken bewohnten Stadtteil Kreuzberg in Berlin, in dem Saunders "eine groteske Karikatur des Lebens im eigenen Heimatland" ortet, "ein Leben, das auf primitive Traditionen gründet, die in großen Teilen der Türkei gar nicht mehr existieren und den meisten Bürgerinnen und Bürgern der Türkei genauso fremd sind wie den Deutschen".

Nun könnte man dem Autor zwar in diesem Punkt eine gewisse Pauschalisierung unterstellen, dennoch lohnt es sich, seine Erklärung für ein solches Muster zur Kenntnis zu bringen: Eine solche Entwicklung sei auf die rigide Vergabepolitik bei der Zuerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft zurückzuführen, schlussfolgert der Autor: "Die deutsche Politik schien von Anfang an darauf ausgerichtet, eine gescheiterte Ankunftsstadt hervorzubringen, deren Bewohner sich weder am Zielort auf sinnvolle Weise fest einrichten noch realistische Erwartungen auf eine endgültige Rückkehr in ihre Dörfer hegen konnten."

Ziel: Der soziale Aufstieg

Kritisch könnte man anmerken, dass Saunders in seiner Recherche zu viel unterbringen will: individuelle Lebensgeschichten, eine gewisse Parteinahme für die Interviewpartner, historische Fakten, den Versuch objektiver Analysen und Prognosen. Das Buch liest sich streckenweise unübersichtlich und überladen. Genau dieses Zuviel an Information ist zugleich die Stärke dieses beeindruckenden Berichts, der das Elend keineswegs beschönigt und dennoch dem Mut und dem Lebenswillen von Millionen Menschen, die durch Migration ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft einlösen wollen, gebührenden Tribut zollt. "Arrival City" führt zum Teil schockierend vor Augen, wie breite Bevölkerungsschichten ums pure Überleben kämpfen, wie diese Menschen aber auch unter widrigsten Umständen kollektiv und individuell eine beeindruckende Kreativität entfalten, um den sozialen Aufstieg zu bewältigen. (Mascha Dabić, daStandard.at, 20.2.2012)