Im Viertel Botafogo ist von den Dealern ein Bus angezündet und an der sonnigen Copacabana eine Autobombe deponiert worden. Ein paar Tage später wurden ein Luxushotel im bunten Glória und die Seilbahn zur Christusstatue beschossen. Verletzt wurde niemand. Die Anschläge sollten offenbar nicht die Touristen, sondern die Stadt beim Kampf gegen den Drogenhandel treffen.
Die Frau hat Mut
Marina Fatio Schulze lässt sich davon nicht einschüchtern. "Die Gangs wollen es jetzt offenbar der Polizei zeigen. Aber hier sind wir völlig sicher", versichert die Reiseführerin. Die Frau hat Mut. Denn ihr klappriger Kleinbus nimmt gerade die kurvige Bergstraße hinauf in die Favela, in der die schwarze Fahne flattert. Marina karrt täglich ein Rudel Touristen hierher, die abseits des Pauschaltourismus, mit Kameras bewaffnet diesmal ein wenig zögerlicher als sonst aus dem Bus steigen.
Marina arbeitet für "Favela Tours", ein kleines Reisebüro, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Favelas ins rechte Licht zu rücken. Auf dem Werbeprospekt ihres Büros sieht man eine lächelnde Oma mit Sonnenhut, die von einer Terrasse mit einem Fernglas auf den Irrgarten von Ziegelhäusern blickt. "Sei nicht schüchtern, die Einheimischen werden dich freundlich willkommen heißen!", verspricht der Prospekt. Das stimmt.
Die Schattenseite der brasilianischen Moderne
Marinas Bus fährt auf die Schattenseite der brasilianischen Moderne. Auf den ersten Blick sieht es aus wie in einer Vorstadt am Rande einer Megacity. Wild gewachsen, anarchisch, ganz nah an den Vierteln und Hotels der Reichen schlängeln sich die Ziegelbauten an der ehemaligen Grand- Prix-Strecke von Rio den Berg hinauf. Lehmige Straßen, dunkle Gassen dazwischen wummernde Bässe aus den vielen Cafés. Wer hinunterblickt von den Dachterrassen, sieht hinter dem Häuserlabyrinth die Hochhäuser der Copacabana und die Ausläufer von Ipanema.
Vier Fünftel der Cariocas kennen das berüchtigte Rocinha nur aus den Chronikspalten der Zeitungen. Die Polizei betritt die Stadt nur mit kugelsicheren Westen. Selbst die städtischen Autobusse schreiben nicht "Rocinha" auf ihre Fahrpläne, obwohl sie auf den Berg fahren. "Das wäre ein Stigma für alle, die einsteigen", sagt Marina. Und das sind ziemlich viele. Vor allem Hilfsarbeiter und Dienstmädchen, die unten in der Stadt die Hotelzimmer putzen. Bei der letzten Volkszählung zählte man 60.000 Menschen in Rocinha. Wahrscheinlich sind es fünfmal so viele. Denn die Beamten der Stadt trauten sich beim Zählen nicht hinein in die illegal errichteten Häuser.
Die dunkle Seite des Aufbruchs
"Man muss endlich begreifen, dass Favelas keine Gettos, sondern die dunkle Seite jenes Aufbruches sind, der Brasilien einst zum reichsten Land Südamerikas machte", sagt Marina zu den Touristen. Hier leben jene, die vom Land kamen und ein wenig teilhaben wollten am großen Boom. Der Staat interessierte sich nicht für sie. Heute ist Rocinha, das schneller wuchs als die einst exzellenten Wirtschaftsdaten, von der Mafia kontrolliert. Diese Stadt in der Stadt sollte man deshalb nicht alleine betreten.
"Bitte packen Sie jetzt die Kameras weg", ersucht die Reiseführerin plötzlich die Touristen. Die jungen Burschen, die hier auf der "Via Appia", einem mit lebenden Hühnern und Tauben vollgestopften Markt, mit Handys und Knallfröschen herumlungern, arbeiten als "Eyewatcher" der Drogenbosse. Keiner geht hier unentdeckt durch. Die Polizei schon gar nicht. Die Drogenbosse schreiben hier - wo die Polizei lieber Telenovelas im Wachzimmer schaut - nicht nur die Gesetze ("nichts sehen, nichts hören, nichts sprechen"), sondern sie finanzieren auch so manche Schule und die vielen Sambavereine, in denen die Kids monatelang für Rios Karneval üben.
"Internet Center" von Rocinha
Jetzt führt die Tour ins "Internet Center" von Rocinha. Um einen Real können die Kids von Rocinha hier surfen und studieren. Der moderne Computerraum wurde von "Viva Rio" errichtet. Neben Unterricht an den Terminals gibt es Rechtsberatung und Jobtraining. Die Plakate, die hier hängen, werben nicht nur "Für eine andere Welt", sondern auch für den "Fight for Peace"-Boxclub.
Manche der vergessenen Kinder werden auch von Männern wie Marcilo betreut. Er sitzt am Straßenrand und malt mit ein paar Burschen das Gässchengewirr in bunten Farben. Der pädagogische Trick: Nur jene Kids dürfen malen und Bilder verkaufen, die auch artig in die Schule gehen, anstatt mit Knallkörpern Schmiere zu stehen. "Favela Tours" finanziert das Projekt.
"Kleiner Bauernhof"
Rocinha, das bedeutet "kleiner Bauernhof". In 50 Jahren hat er sich ausgewachsen zu einer Stadt. Obwohl hier nichts geplant wurde, funktioniert urbanes Leben erstaunlich gut. Es siedeln Ärzte und Juristen hierher, weil sie mit der Masse gutes Geld verdienen. Die Bewohner der hoch gelegenen Unterwelt beginnen sich auch im Alltag zu organisieren. Wenn die staatliche Post keine Briefträger ins Labyrinth schickt, dann finden sich Kinder, die die Briefe für ein paar Reals im Monat vom Postamt holen und die steilen Stiegen hinauftragen.
Wenn es keinen Strom in den dunklen Winkeln gibt, dann finden sich "Drahtzieher", die vom nächsten Masten ein paar Kabel ziehen. Wenn die Regierung keine Straßenschilder montiert, dann werden eben Straßennamen mit Kreide auf die Häuser gemalt.
Wenn die Medien die Favelas ausblenden, dann wird eben eine eigene TV-Station und ein Radiosender gegründet. "Es gibt ein großes Gemeinschaftsgefühl, die Menschen hier können nicht auf die Regierung vertrauen", sagt Marina, "aber sie wollen hier bleiben, selbst wenn sie wegziehen könnten."
"Utopia"
Auf zum nächsten Lehrpfad der Moderne. Wieder eine Tour durch eine Stadt, die eigentlich keiner besuchen will. Im Reiseführer steht was von "Utopia". Deshalb bummeln vor allem westliche Architekturstudenten hierher und nennen die Hauptstadt Brasília, dieses Ungeheuer, "die geilste Stadt der Welt".
Der Kleinbus rast durch das Gewirr von Autobahnen. Diesmal lenkt ihn der Reiseführer Francisco: "Hier ist es wunderbar, ich will hier nicht weg", sagt er. Man zieht vorbei an zerbröselnden Betonbauten und staubigen Wiesen. Die wenigen Fußgänger werden sogleich beim Überqueren der Straße um ihr Leben rennen.
Man findet keinen schattigen Baum, keinen Gehsteig, keinen Zebrastreifen im Zentrum dieser Stadt. Auf den Straßen gibt es weder Cafés noch Geschäfte. Nur einen kleinen Markt, der im Dreck versinkt. Francisco gibt sich begeistert: "Überall Blüten und Wellen", sagt er. Er meint die Architektur seines Idols Oskar Niemeyer, des Schülers von Le Corbusier. Der kommunistische Architekt hat hier im Auftrag des fortschrittlichen Präsidenten Juscelino Kubitschek fast alle wichtigen Gebäude der Stadt geplant. In Beton gegossene Moderne, verspielt und in drei Jahren hochgezogen. Die Brasilianer sollten auf den flachen Dächern der Regierungsgebäude spazieren, dazwischen an Brunnen, Teichen und großen Plätzen rasten, träumte Niemeyer.
Alles wurde geplant
Heute zerbröselt Niemeyers Traum so wie der Beton seiner Gebäude. Das Dach des Parlaments ist abgesperrt. Brasília sollte Aufbruch, Fortschritt und Wohlstand, das Gegenteil der Armenviertel von Rio verkörpern. Alles wurde geplant und durchdacht. Und Niemeyer, der Kommunist, schwärmt in Interviews zwar noch heute davon, wie er damals mit den Arbeitern gemeinsam essen gegangen ist. Doch manchmal spricht er - der natürlich im schicken Rio lebt - auch von Fehlern. Nur wenige Firmen wollten sich hier ansiedeln. Als die Stadt 1960 eröffnet wurde, stürzten Zehntausende Beamte, die von Rio hierherkommen mussten, trotz finanzieller Unterstützungen in Depression.
Und daran sind nicht nur die Militärs schuld, die Brasilia während der Diktatur den Geldhahn abdrehten. Die geometrisch angelegten Straßen haben keine Namen. Nur Nummern und Buchstaben. In "CD Quadra 703" wohnt eine Familie, die ihre Kinder nach "403 Norte" in die Schule und nach "Sul Entrequadra 307" in die Kirche schickt.
Die ganze Stadt ist in Sektoren geteilt. Bankensektor, Botschaftssektor, Hotelsektor, Regierungssektor, Wohnsektor. Zwischen den Sektoren gähnen verbrannte Wiesen, am Abend sieht das Zentrum wie die Kulisse eines gespenstischen Thrillers aus. Wer kein Auto hat, wandert Stunden, um von einem Sektor in den anderen zu gelangen. Manchmal in völliger Dunkelheit, weil wieder einmal der Strom ausfällt.
Auch die Wohnbezirke sehen völlig gleich aus
Jeder Block hat ein genormtes Einkaufsviertel. Davor wieder Autobahnen und ein paar geschwungene Kirchen - natürlich von Niemeyer.
Die Kinder sitzen in den Wiesen und malen seine Bauten ab. Wenn sie zum zentralen Busbahnhof wollen, müssen sie mindestens dreimal die Autobahn überqueren. Denn in der Mitte der Stadt liegt eine riesige, von Straßen zerfurchte Wiese, die nicht verbaut werden darf, weil es die Weltkulturbewahrer der Unesco so vorgeschrieben haben. Nur in einer großen Shoppingcity gibt es virtuelle Straßennamen: "Pra¸ca des Artes" und "Pra¸ca de Alimentacao".