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Der Amazonas

Foto: Archiv
Die Stadt Manaus, im Herzen Brasiliens und des Amazonasgebiets gelegen, ist vor hundert Jahren unfassbar reich gewesen, besonders betuchte Einwohner haben angeblich ihre Kleider zum Waschen nach London und gewiss ihre Kinder zum Lernen nach Frankreich geschickt. Manaus war eine der ersten Städte in der westlichen Hemisphäre mit einem eigenen Elektrizitätsnetz, man hatte einen schnellen Aufstieg erlebt dank des Kautschukbaums, der zur Herstellung von Latex herangezogen wurde.

Bergab ging es nicht minder schnell, nachdem der Gummibaum mittels 70.000 Samen von Brasilien nach Indonesien geschmuggelt und dort in Plantagen angepflanzt worden war. Heute hat Manaus 1,5 Millionen Einwohner und mit einer Ausnahme nicht besonders viel zu bieten. Die Ausnahme ist eine wunderbare Umgebung. In oder vor der Stadt trifft der Amazonas (vulgo Solimoes) mit dem Rio Negro zusammen, gemeinsam mit unzähligen Armen, die sich ihren Weg durch den Regenwald bahnen, bilden sie eine einzigartige Landschaft.

Nur mit dem Boot erkundbar

Die lässt sich in Wahrheit ausschließlich mit dem Boot erkunden. Also begleiten wir die "Forest II" auf ihrem Weg gen Osten, den Amazonas flussabwärts Richtung Atlantik. Das Boot ist sechs Jahre alt, hat aber bis dato noch nie das Meer gesehen, das soll sich jetzt ändern. Die "Forest II" ist 28 Meter lang, sechs Meter breit, wird von 700 Pferden und einem Dieselmotor angetrieben, bietet auf zwei Etagen 14 Passagieren Platz. Aufenthaltsraum, TV-Raum, Radar, Sonar, GPS und Satellitentelefon verstehen sich von selbst, das Boot wird zumeist von Gruppen gepachtet, die Kunden wollen angeln oder durch den Dschungel touren oder ein Seminar veranstalten. Meistens wollen sie dreimal am Tag und darüber hinaus ausgezeichnet speisen.

Garant dafür ist Paolo, der berühmteste Schiffskoch im Amazonasgebiet - was zugegeben nicht nur mit seinen Künsten zu tun hat. Vor dem "Forest"-Job hat Paolo auf der "Seamaster" des berühmten neuseeländischen Seglers Peter Blake gekocht. Blake hatte den America's Cup gewonnen und dann zu Forschungen den Amazonas bereist. Im Dezember 2001 wurde sein Schiff von Piraten überfallen, die Blake erschossen, weil er sich zur Wehr setzen wollte. Paolo erzählt nicht ohne Stolz, wie er sich damals geistesgegenwärtig im Aufenthaltsraum einsperrte und nachher der Polizei Bericht erstattete.

Eine volle Woche dauert die Reise

Die "Forest II" kommt an Santarém vorbei, an der "Karibik des Amazonas", in den hier der blaues Wasser führende Tapajós mündet. Die Läufe des Flusssystems werden an ihren Färbungen unterschieden, die "schwarzen" Flüsse führen organischen Humus aus der Erde im kolumbianischen Hochland mit, die "weißen" (eigentlich gelb-braun) sind aus den Anden herabgestürzt, die "klaren" (na ja) im brasilianischen Hochland entsprungen, wo es nicht viel wegzuschwemmen gab. Der Amazonas selbst erscheint einmal blau, dann grün, dann beinah schwarz. Am meisten beeindruckt seine oft unendlich wirkende Breite von mehreren Kilometern, manchmal ist das andere Ufer mit bloßem Auge nicht mehr auszumachen.

Ausgiebig gebadet wird selten, wir springen höchstens zur Erfrischung in den Fluss. Nur die Häfen, in denen die Kinder im Wasser herumtollen, erscheinen uns wirklich sicher. Ansonsten haben wir zu viel gelesen von Stachelrochen und Piranhas, Krokodilen und Wasserschlangen, von denen wir freilich keine einzige zu Gesicht bekommen.

Mitten auf dem Fluss

Manchmal fahren wir mitten auf dem Fluss, dann wieder die Ufer entlang, an denen die Bäume alles (ins Wasser) hängen lassen. Ab und zu ist in den Wipfeln und mit dem Fernglas ein Affe zu erkennen, meistens ein Wollaffe, Macaco auf Portugiesisch. Eine winzige Insel erweist sich als riesiges Vogel-Nest, Tausende Mitglieder fünf, sechs verschiedener Familien fliegen auf, als wir vorbeituckern, der Himmel über uns verfärbt sich freilich nicht schwarz, sondern orange, weiß, blau, grün.

Einmal fahren wir mit einem kleinen Beiboot an Land, um Einheimische zu besuchen. Everald ist, als wir vor Anker lagen, gemeinsam mit seinem achtjährigen Sohn Leo in einem Kanu zur "Forest" herübergepaddelt, hat uns zu sich eingeladen. Sein Haus steht auf Stelzen, es handelt sich um ein Haus im entferntesten Sinn, der etwa 35 Quadratmeter große Schuppen ist in drei Zimmer unterteilt. Zutritt bekommt man über zwei schmale Bretter, die einen Steg bilden, ein Kübel mit Flusswasser steht im Weg, Everald und Leo lassen sich ein wenig davon über die Füße rinnen, wir machen es ihnen nach. Der Eingang ist ein Loch in der Wand, Türe gibt es keine, das Loch ist ganz unten mit einem Brett zugenagelt, so werden (zumindest einige) Tiere angehalten, draußen zu bleiben.

Everalds Frau Maria

Jetzt blicken uns Everalds Frau Maria und die vier jüngeren Schwestern Leos entgegen. Der erste Raum ist praktisch leer, an der Wand hängen ein Radio und zwei Poster von Fußball-Mannschaften, "Paulista" und "Fluminenses", beide aus der Meisterschaft 1995.

Im zweiten Raum steht ein einfacher Herd, im dritten liegt eine uralte Matratze auf dem Boden. Wir haben Everald auf der "Forest" gefragt, was wir ihm anbieten können, er hat einige Dosen Red Bull mitgenommen, jetzt revanchiert er sich mit einem Glas Flüssigkeit, die wie Kakao aussieht und nach gar nichts schmeckt.

Ursprünglich wollte sich die "Forest" durch einen Kanal nach Norden zum Araguari schwindeln, einem kleinen Bruder des Amazonas. Der Kanal war leider gesperrt, so blieb ein Abstecher durchs Meer der einzige Ausweg. Zwei Tage wurden im Hafen von Macapá überbrückt, es wehte zu stark aus Nordwest, der Wind hätte, mit der Strömung im Bunde, das Boot zurück ans Ufer geworfen. Am dritten Tage endlich verlor die "Forest II" ihre Salzwasser-Unschuld, ein paar Stunden lang schaukelte sie im Atlantik, dann bog sie wieder nach Westen und ins Land ab.

Die Araguari-Mündung

In der Araguari-Mündung, so war uns versichert worden, kann man die "Pororoca" beobachten wie an keinem anderen Fluss. Die "Pororoca", das sensationelle Schauspiel einer Meeres-Flutwelle, die Kilometer weit ins Land rollt. Meer und Fluss treffen aufeinander, Meer ist stärker, so bäumt sich eine gewaltige, bis zu vier Meter hohe Welle auf und läuft den Fluss hinauf, jawohl, hinauf.

Das Phänomen ist stets an den Tagen um Vollmond zu beobachten und in den Monaten Jänner bis April beziehungsweise im September besonders beeindruckend und gefährlich. An schmäleren Flüssen, die nach starken Regenfällen sowieso schon Hochwasser führen, sind immer wieder ganze Dörfer überflutet worden und auch Menschen ums Leben gekommen.

Das Indianerwort Pororoca steht für "großer zerstörerischer Lärm", der Lärm wird einem spätestens klar, wenn man die Welle schon wie einen Motor klopfen hört, obwohl sie noch kilometerweit weg ist. Im Hafen des kleinen Fischerdorfs Cutias liegt die "El Dorado", sie soll einige Surfer mitnehmen. Vor sechs Jahren wurde die Pororoca für den Extremsport entdeckt, Einheimische ritten sie zuerst, dann kamen Profis aus Rio und ließen sich landeinwärts tragen.

Einzigartige Gelegenheit

Einerseits lockte sie die einzigartige Gelegenheit, minutenlang auf ein und derselben Welle zu reiten, andererseits lockte der Nervenkitzel. Wer vom Brett fällt und überrollt wird, findet sich in kabbeligem Wasser wieder, das nicht nur Baumstämme und Dreck, sondern auch Tiere mitgerissen hat, die in ihrer Panik dem Menschen selten Gutes wollen. Von Flüssen in China und England werden ähnliche Vorgänge berichtet, nirgendwo aber kommt eine Welle derart gewaltig daher wie auf dem Araguari.

Die "Forest" ist der "El Dorado" gefolgt, jetzt stehen wir in aller Herrgottsfrüh am sicheren Land und sehen, wie ein weißer Strich, der sich über drei Kilometer von einem Ufer zum anderen zieht, näher und näher kommt. Beinah auf unserer Höhe angelangt, misst die Pororoca gute drei Meter, und die Surfer lassen sich mit kleinen Motorbooten oder Jet-Skis möglichst nahe zur Welle ziehen. Sie gleiten ins Wasser, stellen sich auf ihre Bretter und surfen winkend an uns vorbei.

Am Abend sitzen die Brasilianer Eraldo, Carlos und Picurita, der Australier Ross und der Amerikaner Gary beisammen und tauschen Erfahrungen aus. Der längste Ritt bis dato auf dem Araguari, so wird berichtet, war erst nach etwa 40 Minuten zu Ende. Wieder lassen wir uns von Paolo bekochen und hören uns während des Essens noch einmal seine Geschichte an. Am nächsten Tag gehen wir in Macapá von Bord (des Schiffes) und an Bord (eines Flugzeugs). Das Rauschen des Amazonas haben wir noch in den Ohren, und immer wieder mischt sich das Klopfen der Pororoca darunter. (Der Standard/rondo/13/6/2003)