Berlin - Joachim Gauck wird als Nachfolger von Christian Wulff neuer deutscher Bundespräsident. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel gab am Sonntag nach einem stundenlangen dramatischen Ringen ihren Widerstand gegen den Favoriten von SPD und Grünen auf. Sie wendete damit in höchster Not einen Koalitionsbruch ab.
Die FDP hatte überraschend Gauck unterstützt und das schwarz-gelbe Bündnis zeitweise in eine schwere Krise gestürzt. Der Gründungschef der Stasiunterlagen-Behörde, der in einem ersten Anlauf 2010 Wulff unterlegen war, kann sich nun auf eine breite Unterstützung in der Bundesversammlung stützen, in der Abgeordnete des Bundestages und Vertreter der deutschen Bundesländer sitzen. Damit werden bald zwei Ostdeutsche an der Spitze des Staates stehen.
"Wahrer Demokratielehrer"
Merkel bezeichnete bei einem gemeinsamen Auftritt der Parteichefs den 73-jährigen früheren DDR-Bürgerrechtler als "wahren Demokratielehrer", der wichtige Impulse für Globalisierung, die Lösung der Schuldenkrise und mehr Demokratie geben könne. Der sichtlich bewegte Gauck kündigte an, er wolle den Deutschen vermitteln, dass sie "in einem guten Land leben, das sie lieben können". Gauck war in Umfragen klarer Favorit der Bürger. Rund jeder Zweite hält ihn für geeignet.
Gauck sagte auf der Pressekonferenz, er sei kein "Supermann" und müsse sich die Vorschusslorbeeren erst verdienen. Er sei überwältigt und verwirrt. Der Anruf der Kanzlerin habe ihn im Taxi erreicht, sagte der aus Rostock stammende und nun in Berlin lebende Pastor. Bei der Annahme der Kandidatur für das Staatsoberhaupt habe ihm unglaublich geholfen, dass die Koalition, SPD und Grüne sich zusammengefunden hätten. An Merkel persönlich gerichtet sagte Gauck, das Wichtigste für ihn sei immer gewesen, dass sie ihm Vertrauen und Hochachtung gezollt habe.
Koalition am Rande des Scheiterns?
Zuvor stand die Koalition - mitten in der Euro-Schuldenkrise - am Rande eines Scheiterns. Merkel machte bis zum Abend innerhalb der Unionsspitze deutlich, dass sie Gauck, der 2010 gegen den am Freitag zurückgetretenen Wulff erst im dritten Wahlgang verloren hatte, nicht unterstützen wolle. Merkel hatte 2010 Gauck verhindert und auf Wulff gesetzt. Die FDP-Spitze um Rösler hielt aber an Gauck fest. Damit hätte die Union in der Bundesversammlung, die den Präsidenten wählt, keinen eigenen Kandidaten durchbringen können.
Der FDP-Vorstoß löste zuvor heftige Reaktionen im Unionslager aus. Die Lage war verfahren, weil die FDP zugleich auch die von der Union vorgeschlagenen Anwärter Töpfer und Altbischof Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche, nicht haben wollte. Bei der ums Überleben kämpfenden FDP hieß es, nach zwei Jahren der Demütigung könne man nicht mehr alles von der Union schlucken, die in der Präsidentenfrage alle parteiübergreifenden Kompromisse blockiere. "Dass wir Gauck durchgesetzt haben, ist ein Meilenstein", hieß es.
Schwarz-Gelb sucht Schadensbegrenzung nach Streit
Nach dem kurzen, aber überaus heftigen Streit um die Nominierung haben sich Vertreter der Koalitionsparteien Union und FDP am Montag bemüht, die Wogen zu glätten. Die Gespräche mit der FDP über die Aufstellung von Joachim Gauck, der 2010 als parteiloser Kandidat von SPD und Grünen dem Koalitionskandidaten Wulff in der Bundesversammlung unterlegen war, seien "mitunter nicht leicht verlaufen", sagte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe im ZDF-"Morgenmagazin". Er rate nun dazu, "nicht öffentlich nachzukarten". Dies verbiete allein schon die Würde des höchsten Staatsamts. CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich am Sonntagabend erst unter massivem Druck des Koalitionspartners zu einer Unterstützung von Gaucks Kandidatur gemeinsam mit der Opposition bewegen lassen.
Die schwarz-gelbe Koalition müsse sich nun um drängende Themen wie die Energiewende und die Euro-Krise kümmern, sagte Gröhe. Dabei werde die Union ein "verlässlicher Koalitionspartner" sein. Der Generalsekretär sah die Bundeskanzlerin durch die Kontroverse nicht geschwächt. "Ich sehe, dass wir eine Kanzlerin haben, die sehr hohe Zustimmung in der Bevölkerung genießt." Das Gleiche gelte für Gauck. Unions-Fraktionsvize Michael Kretschmer (CDU) hatte zuvor noch von einem "gewaltigen Vertrauensbruch" seitens der FDP gesprochen, der schwere Folgen für die weitere Zusammenarbeit in der Koalition haben werde. "Das Verhalten ist symptomatisch für den Zustand der FDP", sagte er.
Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki sprach sich am Montag für ein Ende des Streits in der Koalition aus. "Wir sollten jetzt nicht zurückblicken im Zorn", sagte er ebenfalls im ZDF-"Morgenmagazin". Die Politik habe mit Gaucks Nominierung gezeigt, "dass wir handlungsfähig sind".
"Ende gut, alles gut"
Merkel betonte, Gaucks Lebensthema sei die "Idee der Freiheit in Verantwortung". Dies verbinde sie als Ostdeutsche - "bei aller Verschiedenheit" - mit dem Gründungschef der Stasiunterlagen-Behörde. "Unsere Sehnsucht nach Freiheit hat sich 1989/90 erfüllt." SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte: "Ende gut, alles gut." Gauck könne die Kluft zwischen Bürgern und politischer Klasse schließen. CSU-Chef Horst Seehofer bezeichnete die Kür Gaucks als gute Entscheidung für Deutschland. "Sie haben das Vertrauen der CSU und der Bayern."
Rösler betonte, Gauck könne verlorenes Vertrauen in das Bundespräsidentenamt zurückgeben. Grünen-Chefin Claudia Roth sprach von einem historischen Moment. Gauck könne in Zeiten von Rechtsterror in Deutschland viel bewegen: "Joachim Gauck ist jemand, der Demokratie wieder Glanz verleihen kann."
Die "Leider nein"-Kandidaten
Die von der Union ebenfalls genannte Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) wurde von der FDP abgelehnt, weil ihre Wahl ein zu starkes Signal für Schwarz-Grün im Bund wäre. Roth regiert seit 2006 in Frankfurt ein Bündnis mit den Grünen. Der mögliche Kandidat Wolfgang Huber stieß bei FDP, Grünen und im katholischen CDU-Flügel auf starke Vorbehalte. Der bei Union und Rot-Grün geschätzte Ex-Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) fand keine Zustimmung der FDP, weil er zu stark für eine grüne Energiepolitik stehe, hieß es. Der ursprüngliche schwarz-gelbe Favorit Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte eine Kandidatur am Samstag abgelehnt.
Bundespräsident Wulff war am Freitag nach nur 20 Monaten Amtszeit zurückgetreten. Die Staatsanwaltschaft Hannover leitete am Wochenende gegen ihn ein Ermittlungsverfahren ein. Der frühere niedersächsische Ministerpräsident steht im Verdacht, Vergünstigungen von befreundeten Unternehmern angenommen zu haben. In der Bundesversammlung hat Schwarz-Gelb nur eine hauchdünne Mehrheit. Die Bundesversammlung muss bis zum 18. März ein neues Staatsoberhaupt wählen. (APA)