Die weiter schwelende Krise im türkischen Staat um die Haftbefehle gegen Agenten und frühere Chefs des nationalen Geheimdienstes MIT (Milli Istihbarat Teşkilatī) sowie die versuchte Vorladung des amtierenden MIT-Direktors haben einen bemerkenswerten Nebeneffekt bewirkt: Die konservativ-muslimische Regierung redet erstmals offen über den Islam-Prediger Fethullah Gülen und dessen Netzwerk. Denn Gülens Gefolgsmänner – so lautet die am weitesten unterstützte Theorie – stehen hinter dem gravierenden Konflikt zwischen Justiz und Polizei auf der einen und Regierung und Geheimdienst auf der anderen Seite; einem Zerfall des Staats in rivalisierende Institutionen, den Premierminister Tayyip Erdogan Mühe hat, in Griff zu bekommen.
Politiker und Minister der AKP-Regierung versuchen nun, den Eindruck zu verwischen, es gäbe zwei rivalisierende islamische Kräfte in der Türkei. Im Gegenteil: Gülen und die Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) arbeiten Hand in Hand, so wird versichert. Gülens Gemeinschaft – die „cemaat“ – ist plötzlich kein diffuses Gebilde mehr, das die säkulare Opposition entwirft. Die AKP nimmt den Begriff erstmals selbst in den Mund. „Die Mitglieder der Gemeinschaft sind nicht unsere Rivalen“, erklärte der stellvertretende Parteivorsitzende Hüseyin Çelik in einem Gespräch mit der liberalen Tageszeitung Radikal. „Geist und Sinn unserer Welt decken sich mit den Mitgliedern dieser Gemeinschaft, dieser Bewegung.“ Es gäbe keinen Streit, sondern vielmehr: „An unseren 50 Prozent (den Stimmen beim Wahlsieg im Juni 2011, Anm.) hatten die Mitglieder einen großen Anteil.“
Auch ein ehemaliger Berater Erdogans meldete sich zu Wort. „Ein Organ eines Menschen kann kein feindseliges Gefühl gegen ein anderes Organ hegen“, erklärte Yalçin Akdogan, jetzt AKP-Abgeordneter und Kolumnist in dem Islamisten-Tagblatt Yeni Şafak. „Es kann keinen Konflikt geben zwischen Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die Premierminister Erdogan von Herzen lieben und AKP-Anhänger, die Herrn Gülen lieben.“
Als Isa Gök, ein Abgeordneter der Republikanischen Volkspartei CHP, im März 2011 im Parlament von der „Bande“ sprach, die Gülens Gefolgsleute im Staat bildeten, löste er Tumulte aus. Damals ging es um die Journalisten Şik & Şener, die wegen ihrer Recherchen über die Gülen-Bewegung und die Polizei verhaftet worden waren. Die „Fethullahcilar“, die Anhänger von Fethullah Gülen im Plenum sollen sich bekennen, die Maske fallen lassen, rief Gök aus. Große Empörung. Bekir Bozdag war es damals, der AKP-Fraktionsvorsitzende, der zur Verteidigung Gülens schritt, ihn einen „ehrbaren und weisen Mann“ nannte. Von Anhängern oder einer Gemeinschaft sprach er nicht. Bozdag ist heute einer der stellvertretenden Regierungschefs und wiederum derjenige, der in der Krise um den Geheimdienst die verdeckte Arbeit der Agenten am nachdrücklichsten verteidigt.
Fethullah Gülen, bald 71 Jahre alt, begann in den 1960er-Jahren als populärer Prediger in Izmir und setzte sich 1999, zwei Jahre nach der Absetzung der Regierung des Islamisten Necmettin Erbakan durch das Militär, in die USA ab; dort lebt er heute noch. Gülen und seine Bewegung waren in der Vergangenheit – das heißt bis in die ersten Regierungsjahre der AKP nach 2002, als die Partei noch nicht die Macht in der Türkei hatte wie heute – so sehr Ziel von Anfeindungen und Beschuldigungen, weil sie „den sichtbar erfolgreichsten und populärsten Erfolg darstellten, jenes soziale Kapital zu erzeugen, dass der Staat unfähig war zu produzieren“. Das schrieb Muhammed Çetin, einer der vielen Gülen-Apologeten in einem 2011 erschienen Buch (The Gülen Movement. Civic service without borders, Blue Dome Press). Die Rückständigkeit der Türkei war Gülens Chance. Seine Nachhilfeschulen gleichen die enormen Mängel des öffentlichen Schulwesens aus, die Wohnungen und Stipendien seiner Bewegung helfen begabten Studenten aus einkommensschwachen Familien, die vom türkischen Staat nichts zu erwarten haben. Der Preis: lebenslange Loyalität, Gruppenzwang, finanzielle Beiträge. Denn die Gülen-Welt endet nicht mit dem Hochschulabschluss.
Türkische Unternehmer, die Teil der „Hizmet“-Bewegung sind – „Dienstleistung“ (hizmet) ist eine Umschreibung für die Gülen-Gemeinschaft – geben zehn Prozent bis manchmal gar ein Drittel ihres jährlichen Gewinns an Einrichtungen ab, die Teil des internationalen Gülen-Netzwerks sind, schätzte die US-amerikanische Soziologien Helen Rose Ebaugh in ihrer 2010 erschienenen, sehr freundlichen Studie (The Gülen Movement. A sociological analysis of a civic movement rooted in moderate islam, Springer). „Hizmet“ arbeitet natürlich mit eigenen Regeln. Türkische Geschäftsleute, die nicht dabei sein, ziehen im Wettbewerb mit ihren religiösen Konkurrenten mitunter den Kürzeren und gehen bei öffentlichen Ausschreibungen leer aus. Das sind Klagen, die man von Unternehmern aus den säkularen Städten an der Mittelmeerküste hört.
„Die Anerkennungen, die als Ergebnis der geleisteten Dienste zu erwarten sind, stammen ausschließlich von Gott“ (Muhammed Çetin), ist folglich eine durchaus trügerische Beschreibung. Gülen zahlt sich aus – für Geschäftsleute im Profit, den sie zum Teil dann wieder abführen; für Beamte in der Polizei, den Ministerien, Universitäten, Staatsanwaltschaften und Gerichten in der Karriere, die mit einem Mal viel leichter vorangeht. Der frühere hohe Polizeibeamte Hanefi Avci sitzt seit September 2010 in Untersuchungshaft, weil er in einem Buch die gläubigen Seilschaften in der Polizei beschrieb. Der Journalist Ahmet Şik tat dasselbe in seinem Buchmanuskript „Die Armee des Imam“ – gemeint war Fethullah Gülen.
Man tut sich schwer, in Gülens Schriften und Äußerungen aus dem selbst gewählten Exil irgendeine fundamentalistische Verschwörung zu erkennen. Immer geht es um Verständigung zwischen den Weltreligionen, Harmonie, Moral in Politik und Alltag. Gülen kritisierte die Mavi-Marmara-Expedition zum Gazastreifen im Mai 2010; den Bruch der Türkei mit Israel hält er offenbar für falsch. Sein rechtsnationalistischer Hintergrund wiederum gilt manchen als Erklärung dafür, dass er gegen jede Verhandlungslösung mit der PKK ist und deshalb auch ein Interesse habe, Erdogans zeitweise Politik zu unterminieren und den Geheimdienst MIT zu bedrängen. Sicher ist das nicht. Plausibel scheint, dass manche seiner Anhänger in führenden Positionen so denken und in konkreten Fällen konzertiert vorgehen. Intransparenz und Größe sind das eigentliche Problem des Gülen-Netzwerks. Gülens Parallelwelt im türkischen Staat ist eben das: nicht kontrolliert und niemandem gegenüber verantwortlich