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Peter Thiel, Mitbegründer von PayPal, kann sich eine Zukunft vorstellen, in der er gegen einen Roboter Schach spielt und mit dem er hinterher auch über Tolkien diskutieren kann.

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Exciting, challenging, fun, great, amazing, dazzling! (oben, von links:) Peter Thiel, Ray Kurzweil; (unten, von links:) b, Sonia Arrison, Jason Silva.

Fotos: Freund (2), singularitysummit (2)

Die Zuhörerschaft folgt gespannt den Ausführungen der Technikforscherin und Autorin. "Gesundheit bedeutet Wachstum und mehr Reichtum. Die Menschheit wird produktiver. Wir werden Körperorgane züchten und ersetzen können. In meinem neuen Buch", sie schwenkt es, der Titel 100+ erscheint groß auf der Leinwand hinter ihr, "weise ich nach, dass die Chancen, unsere gegenwärtigen Probleme zu lösen, gut stehen. Ob Alterungsprozesse, Umweltprobleme, soziale Ungleichheiten: Wir werden damit fertig werden und uns den nächsten Aufgaben zuwenden können."

Arrison ist eine von mehr als zwei Dutzend Vortragenden, die zu einer Wochenendtagung ins 92nd Street Y, ein großes Bildungszentrum auf Manhattans East Side, gekommen sind. Es sind Nanoforscher und Neurophysiologen, Ökonomen und Physiker, Erfinder und Investoren, und ein Thema eint sie: die Singularität.

Der sechste jährliche "Singularity Summit" hat fast 900 Zuhörer in das holzgetäfelte Kaufmann Auditorium gelockt, wo die Namen großer Männer in Goldlettern die Decke säumen - Washington, Goethe, Dante, Jefferson, Maimonides, Kant usw. Aber was ist diese Singularität überhaupt?

Je nachdem, wen man fragt, bekommt man unterschiedlichste Antworten. Für Mathematiker ist sie ein nicht definierbarer Punkt. In der Physik wird der Effekt Schwarzer Löcher so bezeichnet, dichteste Materie, in der sich alles aufhört, zum Beispiel Zeit. Auch unvorhersehbare mechanische Prozesse heißen so, plötzlicher Luftdruckabfall, Musikalben, Romane, Filme, eine Star-Trek-Episode und ein Videospiel.

Würde das die großen Männer in Goldlettern schon verwirren, dann erst recht das hier verhandelte technologische Konzept von Singularität. Es bezieht sich auf die Auswirkungen künstlicher Intelligenz und ist zur Baustelle aller geworden, die von immer schnellerer Informationsverarbeitung einen qualitativen Sprung in eine neue Welt erwarten.

Vor einem halben Jahrhundert soll sich John von Neumann, Pionier der Spieltheorie, über solche Auswirkungen noch ganz allgemein geäußert haben: dass unsere Leben dann einen ganz unerwarteten Verlauf nehmen würden. Konkreter hat der Mathematiker Vernon Vinge einen Punkt anvisiert, an dem künstliche Intelligenz (KI) sozusagen sich selbst verbessern und den menschlichen Fortschritt, wie immer definiert, rasant beschleunigen wird. Moores Gesetz zufolge verdoppelt sich die Rechenleistung von Computern bei gleichen Kosten ja alle 18 Monate - die Prognose hat sich erstaunlich gut bewahrheitet, wie der gerne zitierte Vergleich von hausgroßen "Elektronengehirnen" ca. 1960 mit heutigen Laptops illustriert. Der österreichische Computerwissenschafter Hans Moravec schloss Robotertechnologien in diese Überlegungen ein - eine Superintelligenz würde sich rapide ausbreiten.

Die zentrale Figur der Singularity-Bewegung aber ist Ray Kurzweil. In der Beschreibung seiner Person zeigt sich die Schwierigkeit, das Thema klar einzugrenzen. Kurzweil ist Computerwissenschafter, Autor, Programmierer, seit er 15 war, Erfinder - er hat Sprachsynthese, Scannertechnologie und optische Texterkennung mitentwickelt und einen Synthesizer speziell für Stevie Wonder -, Unternehmer (Kurzweil Music Systems, Kurzweil Applied Intelligence und andere) und Ernährungsexperte. Er bezeichnet sich als Futurist und Transhumanist. Er ist Träger von 17 Ehrendoktoraten und vielen Auszeichnungen, darunter die National Medal of Technology, 1999 von Clinton überreicht.

Sein Buch The Singularity Is Near (2005) fasste zusammen, wie er sich die Zukunft der Menschheit auf informationstheoretischer Basis vorstellte, und wurde bald zur Bibel der Bewegung. Klar, dass Kurzweil der Hauptredner auf dem Summit ist.

"Die Informationstechnologie wächst weiter exponentiell", sagt er. "Wir können Medizin, Gesundheit oder Biologie als Informationsprozesse verstehen, und das heißt, dass wir sie umprogrammieren können. Reverse Engineering des menschlichen Gehirns wird möglich." Kurzweil erwartet, dass Computer den Turing-Test - ob KI ein so gutes Denkvermögen besitzt wie der Mensch - 2029 bestehen werden. Dann werde der Moment eintreten, wo die bisherige Evolution in eine neue, ganz andere, noch nicht vorhersehbare Phase eintreten wird - Singularität!

Wie Kurzweil auf der Bühne steht und eine Zukunftsvision nach der anderen gelassen als machbare Technik darstellt, wirkt er wie ein souveräner Verkäufer, der er offenbar auch ist.

Wie wird sich Computertechnik in der dritten Dimension entwickeln? "Noch sehen wir das nur auf sehr kleinem, molekularem Niveau. Aber 3-D-Drucker werden bald Erstaunliches leisten." Als Beleg zeigt er ein Cover des der Übertreibung unverdächtigen Economist: "Print me a Stradivarius!"

Werden wir die Weisheit haben, mit den neuen Möglichkeiten intelligent umzugehen? "Gefahren gibt es immer. Doch ich denke, dass die Weisheit der Menge und dezentralisiertes Wissen zum Guten beitragen."

Nehmen die Probleme auf der Welt nicht eher zu? "Was zunimmt, ist, dass wir mehr über die Probleme wissen. Von den guten Entwicklungen hört man halt weniger oft."

Der Summit soll dazu beitragen, dass man mehr von ihnen hört. Die Pfeile der Powerpoint-Grafiken, ob Biotech- oder Nano-Revolution, Bildungsniveaus, Lebenserwartung oder BNP, zeigen durchwegs nach oben. Die Vortragenden sind, bei aller Abwägung möglicher Probleme, davon beseelt, dass alles machbar ist. Die häufigsten von ihnen verwendeten Attribute: exciting, challenging, fun, great, amazing, dazzling!

Das wirkt ansteckend. In der ersten Pause tauschen sich die Zuhörer mit den Rednern und miteinander aus, fast alle sind neugierig auf mehr und erwarten sich Hilfe für ihre speziellen Interessen. Elisa Miller-Out von Singlebrook Technology möchte das Gehörte in mobile Apps übersetzen. Eine Investorin aus South Carolina ist angereist, um Partner für ein Online-Portal für karitative Spenden zu finden. Wendy Grossman aus England, laut Visitenkarte "folksinger, skeptic, writer", erwartet sich Impulse für Diskussionen. Auch ein Mathematikprofessor indischer Abstammung, der schon in der Saaldiskussion das Problem der Armut angesprochen hat, bleibt dran. "In irgendeiner Form", vermutet er, "geschieht hier etwas Gutes, und ich möchte dabei sein." Mircea Mihaescu, ein Direktor der russischen Sberbank, ist gekommen, um nach interessanten Investitionen Ausschau zu halten. Und der College-Student Oren erzählt lang und breit, er habe sich das Semester freigenommen, weil er 100 Millionen Dollar für ein Start-up-Unternehmen aufstellen möchte. Es bleibt unklar, ob er völlig verrückt ist oder der Schlaueste auf der ganzen Veranstaltung.

Zuhörer mit einem Gespür fürs Geschäft haben auf einen Vortragenden ganz besonders gewartet, auf Peter Thiel. Der Mitbegründer von PayPal - beim Verkauf allein hat er 55 Millionen Dollar verdient - ist einer der größeren Hedgefonds-Manager in Silicon Valley, sein Wort und vor allem das viele Geld, das er gezielt in junge Tech-Visionäre investiert, zählen in der dortigen Gemeinde und im Auditorium.

"Wir diskutieren zu wenig, wie radikal anders die USA in zehn oder 20 Jahren aussehen können." Thiel stottert anfangs ein wenig und zögert oft, doch er kommt in Fahrt. "Today there is too much angst", sagt er. "Wir stecken immer noch im Denkfehler von Malthus (dem Bevölkerungspessimisten). Natürlich, wenn man nicht an Lösungen arbeitet, wird alles knapp." Darum aber brauche man mehr Technologie - und weniger Reglements.

Konsequent investierte Thiel in Nanotechnologie und Robotics. Ein Start-up bekam vor zwei Jahren Geld von ihm für die Entwicklung von "Nano-Computern", informationsverarbeitenden Molekülen, die innerhalb von Zellen die Ausbreitung von Viren verhindern sollen. Er ist auch der größte Sponsor des Singularity Institute in San Francisco, das sich auf die Erforschung "freundlicher KI" spezialisiert (Kurzweil ist einer der Direktoren).

Peter Thiel, der sich als politisch wenig interessiert bezeichnet, sympathisiert mit den Libertarians, denen die liebste Regierung gar keine Regierung ist. Weil er es sich leisten konnte, schrieb der New Yorker vor kurzem in einem Porträt Thiels, immer jugendlich begeistert von allem zu sein, könne er sich eine Zukunft vorstellen, die andere nicht zu denken wagen: ewig zu leben, in den Weltraum zu fliegen, gegen einen Roboter Schach zu spielen, mit dem man auch über Tolkien diskutieren kann.

Ein damit verwandtes Bild wird gleich von drei weiteren Vortragenden aufgegriffen. Es geht um das bekannt gewordene Quiz-Match, das sich Ken Jennings und Watson vor einem Jahr geliefert haben. Jennings ist der erfolgreichste Teilnehmer an der US-TV-Quizserie Jeopardy!, er hat 74-mal hintereinander gewonnen. Watson ist ein auf Sprachanalyse spezialisierter Computercluster von IBM. Er besiegte Jennings und einen Mitspieler, wobei er die in normalem Englisch gegebenen Hinweise deuten und in seinem Riesenspeicher nach vernünftigen Antworten suchen musste.

Auf dem Summit erklärt David Ferrucci von IBM, wie sein Team in jahrelanger Arbeit den Computer dazu gebracht hat, nicht nur den Wortschatz an sich, sondern auch möglichen Doppelsinn, Ironisches, Witz oder Andeutungen richtig zu interpretieren - die Hinweise in Jeopardy!, auf die man noch dazu mit einer Frage zu antworten hat, sind nämlich oft verschwurbelt wie Angaben im Zeit-Kreuzworträtsel. "Watson hat nicht alles verstanden", sagt Ferrucci, "aber genug, um einen Weltklasse-Quizsieger zu schlagen."

Dan Ceruttis Job bei IBM ist es, die Erkenntnisse aus dem Wettbewerb zu verwerten. Aus mehr als 300 Vorschlägen kristallisierte sich heraus, Watson im Gesundheitswesen einzusetzen, "wenn Ärzte, besonders in akuten Situationen, nicht nur alles verfügbare Wissen bei der Hand haben müssen, sondern auch die richtige Vorgangsweise".

Ken Jennings gratuliert auf der Bühne zunächst dem IBM-Team. Er bewundert Watsons Leistung, aber "ich mache mir Sorgen darüber, dass wir Teile unseres Gehirns outsourcen. Wir machen klassische Mittelschicht-Jobs langsam überflüssig, wenn Watson das Denken übernimmt." Und es seien schon physiologische Veränderungen festgestellt worden, wenn etwa Taxifahrer sich nur mehr auf GPS verlassen, statt das Straßennetz durch Lernen zu verinnerlichen. "Wo deren (für das Gedächtnis wichtige) Hippocampus früher signifikant anwuchs, schrumpft er jetzt."

Je länger man den Rednern folgt, umso weiter breitet sich aus, was unter "Singularität" nur mühsam auf einen Nenner zu bringen ist. Manche machen das Podium zur Theaterbühne: Der Computerwissenschafter James McLurkin von der Rice-Universität lässt eine kleine Armada von Minirobotern auf Rädern auffahren, um zu zeigen, wie sie sich selber organisieren können und mehr sind als die Summe ihrer Software.

Andere schließen von ihren persönlichen auf universale Einsichten, etwa Jaan Tallinn, "Hacker, Unternehmer, Investor und Physiker, in dieser Reihenfolge", wie er sich beschreibt. Der estnische Miterfinder von Kazaa und Skype entwickelt eine Hierarchie von Herausforderungen, verschränkt mit individuellen Schicksalen, sozialer Verantwortung, evolutionären Schritten, Status und weiteren Konzepten - ein komplexes Gebäude, das auch durch viele Grafiken und symbolische Bilder nicht wirklich auf die Schnelle einsichtig wird.

Auf rein Visuelles setzt Jason Silva. Der aus Caracas stammende, in Kalifornien arbeitende Filmemacher, eine Art Poster-Boy der Tagung, stellt die Frage, welches Narrativ nötig ist, um die Geschichte der Möglichkeiten der Menschheit zu erzählen: "dass Technologie die wahre Haut unserer Spezies ist; dass Tod nicht mehr sein muss; dass der Anfang nahe ist", wie er mit einem Poster seiner Imaginary Foundation illustriert (siehe Seite 1). Und dann zeigt er "Beginning of Infinity". "Singularität in zwei Minuten" nennt er es, eine atemlose Abfolge von Bilderschnipseln, eine Reizüberflutung, gegen die Musik-Videoclips langatmige Geduldübungen sind (u. a. auf Youtube). Dazzling!

Wildes Denken ist nach dem Geschmack Ray Kurzweils. Auch der Anführer der Singularisten lebt den unmöglichen Traum. In amerikanisch-pragmatischer Weise verbindet er den Griff nach den Sternen mit irdischer Selbsthilfe. TRANSCEND ist der Titel eines seiner Bücher, Untertitel Nine Steps to Living Well Forever, und er hat, ganz der souveräne Verkäufer, jedem Titelbuchstaben einen Schritt zugeordnet, von Talk with your doctor und Relaxation bis New technologies und D etoxification. S steht für Supplements. Kurzweil sagt, er nehme bis zu 200 Nahrungsergänzungen, Pillen, Pulver etc. pro Tag, und laut Aussage seines Arztes habe er die Werte eines 40-Jährigen. Am morgigen Sonntag wird er 64.

Die Beschäftigung mit Singularität ist nicht auf die USA beschränkt. Der Physiker und Biologe Roman Brinzanik und der Autor Tobias Hülswitt haben in Werden wir ewig leben? (Suhrkamp 2010) Gespräche mit 14 zumeist europäischen Fachwissenschaftern versammelt, die sich ernsthaft mit dem Kern dieses Denkens auseinandersetzen und ihn zumindest für diskussionswürdig halten.

Kritik ist auch auf der New Yorker Tagung kaum zu hören, aber es gibt sie. Viele KI-Experten bezweifeln, dass die Entwicklung ihrer Sparte exponentiell weitergehen wird. Andere halten ein Bestehen des Turing-Tests zwar für möglich, aber mit so vielen durch Automatisierung geschaffenen Problemen verbunden, dass, wie der Kritiker Martin Ford schrieb, durchaus "kein Licht am Ende des Tunnels" zu sehen sein werde.

Besonders skeptisch hat sich Jaron Lanier geäußert, in Fachkreisen und in der US-Öffentlichkeit als Computerpionier ähnlich bekannt wie Kurzweil. Die Singularität, sagte er kürzlich, "ist eine Massenfantasie von Nerds, die keine Verantwortung übernehmen wollen und so tun, als ob die Technologie alles von selber mache und sie sich nur draufzusetzen bräuchten".

Dass die Welt, wie wir sie kennen, enden und etwas ganz Neuem Platz machen würde, klingt tatsächlich nach der Verzückungserfahrung, der "Rapture", an die evangelikale Christen glauben. Damit würde sich ein sehr amerikanischer Kreis schließen.

Kurzweil, so war zu hören, kann mit diesem Vergleich leben. Und er hofft sicher, ihn zu überleben. (DER STANDARD, Printausgabe,11./12.02.2012)