Die Türkei ist seit dieser Woche um eine Konspirationstheorie reicher: Der Geheimdienst des Landes packelt mit der kurdischen Untergrundarmee PKK, ja soll sogar deren politischen Arm miterfunden haben. Der heißt KCK oder Union der kurdischen Gemeinschaften, und angebliche KCK-Mitglieder sitzen mittlerweile zu Tausenden in Untersuchungshaft. Das heißt also: Der Staat produziert eine Untergrundorganisation und verhaftet dann Bürger, denen er unterstellt, sie seien Teil dieser Organisation. Macht das irgendeinen Sinn?

Für türkische Sonderstaatsanwälte sehr wohl. Denn der türkische Staat zerfällt in diesen Wochen sichtbar und in atemberaubender Weise in verschiedene rivalisierende Institutionen: Regierung, Justiz, Armee, Polizei, Gendarmerie, Geheimdienst. Anfang Jänner ist erstmals ein ehemaliger Armeechef verhaftet worden, weil er gegen die Regierung konspiriert haben soll. Jetzt geht es gegen den früheren Chef des nationalen Geheimdienstes MIT und auch gegen Hakan Fidan, den amtierenden Direktor. Der ist ein Vertrauter des Premierministers Tayyip Erdogan.

Fidan und der MIT haben in den vergangenen Jahren mit Erdogans Billigung in Oslo geheime Gespräche mit den Führern der PKK geführt, Leuten also, die Ankara eigentlich zu Staatsfeinden erklärt hat. Der MITsprach auch mit dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan. Das alles ist bekannt und von Erdogan wie Staatspräsident Abdullah Gül verteidigt worden. Es war eine politische Entscheidung, um die Chancen einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage auszuloten. Einigen im Land passt das nicht. Statt Staatsreform ist jetzt Staatskrise.

Mit einer schnellen Gesetzesänderung will die Regierung nun den Angriff der Justiz auf den Geheimdienst abwehren. Gül zeigt sich konsterniert; Fidan weigert sich, der Aufforderung der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten; Erdogan lässt zwei hohe Polizisten feuern, die mit den KCK-Ermittlungen befasst waren. Erschreckt stellen türkische Kommentatoren fest: Polizei und Justiz arbeiten zusammen. Das sollten sie auch tun - in einem normalen Staat.

Der Konflikt zwischen Polizei und Geheimdienst ist nicht neu in der Türkei. Auch nicht die Undurchsichtigkeit der Staatsapparate. Erdogan hat beim Regierungsantritt vor zehn Jahren demokratischen Wandel versprochen. Nun zeigt sich: Sicherheitswahn und autoritäres Denken sind im türkischen Staat geblieben. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.2.2012)