In der Wirtschaft geht es nach Tomás Sedlácek um Gut und Böse. Die Ökonomie ist dabei eine nicht so wertefreie Wissenschaft, wie immer dargestellt.

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Standard: Wir leben in einer Welt, die bedingungslos an Wirtschaftswachstum als Problemlöser glaubt. Ist dies aus geschichtlicher Perspektive normal oder ein neuzeitliches Phänomen?

Sedlácek: Mit dem Fortschritt verbinden wir nicht nur materielle Hoffnungen, wir sehen darin auch die Vorstellung, dass es eine immer bessere Welt geben kann. Ein Absinken des Bruttoinlandsprodukts nehmen wir mit beinahe religiöser Enttäuschung hin - selbst wenn es sich nur um ein paar Zehntelprozentpunkte handelt. Doch ist das Phänomen Wirtschaftswachstum sehr jung.

Standard: Warum?

Sedlácek: Wenn man sich ansieht, wie die Haushalte von 2000 v. Chr. bis hin in das Industriezeitalter funktionierten, merkt man, dass sich diese ziemlich ähnelten, trotz des langen Zeitraums. Damals wurde Zeit als zyklisch begriffen - ohne Entwicklung. Man sieht dies beispielsweise an Kinderspielzeug, das sich innerhalb von 4000 Jahren kaum verändert hat. Erst mit dem Beginn des Industriezeitalters kam es zu fundamentalen Änderungen, und ich denke, dass die Menschen vom plötzlichen Einsetzen des Fortschritts überrascht waren. Allerdings gewöhnten wir uns schnell daran, und heute sind wir abhängig davon. Wenn es keinen Fortschritt gibt, kollabiert unsere Gesellschaft. Wir halten Fortschritt für unser Recht - aber das ist es nicht.

Standard: In Ihrem Buch beschreiben Sie die Hebräer, die alle 49 Jahre Schuldenstreichungen vorgenommen haben sollen. Wäre eine so bedingungslose Aktion auch etwas für uns?

Sedlácek: Nun, wir wissen natürlich nicht genau, ob und wie dies umgesetzt wurde. Aber natürlich hätte die moderne Gesellschaft von Zeit zu Zeit einen Neustart nötig. So wie man beim Computer immer wieder einen Reset, ein generelles Zurücksetzen aller Programme vornehmen muss, würde uns so ein Neustart auch immer wieder mal guttun. Unsere Systeme sind ja sehr überfrachtet. Das würde uns auch in Erinnerung rufen, dass einem Besitz nicht auf ewig gehört. Und dass vor allem die Akkumulation von Reichtum nur bis zu einem gewissen Punkt möglich ist. Das ist es ja insbesondere, was uns derzeit Probleme macht: diese extreme Anhäufung von Wohlstand.

Standard: Sind Schuldenstreichungen nicht etwas Ähnliches?

Sedlácek: Wir machen zwar Schuldenstreichungen, aber wir machen sie ohne System und mit vielen, vielen Auflagen. Im Alten Testament wird die Vorschrift beschrieben, Boden alle sieben Jahre ruhen zu lassen. Das hatte natürlich landwirtschaftliche Gründe, aber die Bedeutung ging tiefer. Alle sieben Jahre wurden Menschen, die aufgrund hoher Schulden in Sklaverei gefallen waren, von ihrer Sklavenarbeit befreit.

Standard: Wir aber tun uns beim Vergeben schwer ...

Sedlácek: Ja. Offensichtlich gibt es viele Hürden, was Vergeben und Vergessen von Schuld betrifft. Kleine Firmen können bankrottgehen - aber die großen, insbesondere die Finanzinstitute? Da heißt es "too big to fail", zu groß, um bankrottgehen zu können. Dabei heißt es nicht nur "too big to fail", sondern auch "too interconnected to fail" - zu verwoben, als dass eine Institution bankrottgehen könnte. Diese Grundhaltung spielt in die Fundamente unseres Wirtschaftens hinein: in Spezialisierung und insbesondere in Globalisierung. Als Einzelner sind wir nichts im System. Aber alles ist so verwoben und so sehr voneinander abhängig, dass große Institutionen mit aller Kraft erhalten bleiben müssen.

Standard: Sie sind also ein Globalisierungsgegner?

Sedlácek: Nicht unbedingt. Es muss uns nur stärker bewusst werden, dass es eine dunkle Seite der Globalisierung gibt. Wir sind dazu übergegangen, unser Wirtschaftssystem wie blind zu verteidigen. Außer den Globalisierungsgegnern wollte die Schattenseiten dieser extremen Verwobenheit, die wir durch die Globalisierung erreicht haben, niemand richtig wahrhaben.

Standard: Auf was sollte die Wirtschaftspolitik denn fokussieren, wenn nicht auf Wachstum des Bruttoinlandsprodukts?

Sedlácek: Es müsste doch vorstellbar sein, dass wir unseren Level von Wohlstand einfach halten. Wir sollten dankbar sein, wenn es zu ökonomischem Wachstum kommt, aber es sollte nicht um jeden Preis sein, weil dies unsere Ökonomien irgendwann unweigerlich kollabieren lässt. Gerade wegen des technologischen Fortschritts sollten wir mit dem derzeitigen Wohlstandslevel auch mal zufrieden sein. Wirtschaftswachstum ist kein Recht.

Standard: In Ihrem Buch gehen Sie auf die "unsichtbare Hand" des Adam Smith ein, wonach sich Märkte am besten selbst regeln. Wurde das durch die aktuelle Krise, die von ungeregelten Finanzmärkten ausgeht, nicht ad absurdum geführt?

Sedlácek: Märkte brauchen Regierungen und umgekehrt. Die Märkte wären kollabiert, hätte es nicht staatliche Interventionen in den letzten Jahren gegeben. Aber auch die Regierungen ziehen ihre Berechtigung daraus, dass sie ständig intervenieren. Sie sind wie Betrunkene, die sich stützen müssen, damit sie nicht fallen.

Standard: Die Rolle der Ökonomie wird in unserer Gesellschaft also überbewertet?

Sedlácek: Der materielle Fortschritt ist zur säkularen Religion geworden. Und die Hohepriester dieser Religion sind die Ökonomen. Sie interpretieren die Realität, leisten prophetische Dienste, indem sie makroökonomische Vorhersagen treffen. Und den Weg aus der Schuldenkrise wollen sie auch noch aufzeigen. (Johanna Ruzicka, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 11./12.2.2012)