"Before Nightfall": Liudmila Konovalova und Mihail Sosnovschi.

Foto: Wiener Staatsballett - Casanova/Delbó

Ein holländischer, nun internationaler Choreograf: Nils Christe.

Foto: Wiener Staatsballett

Wien - Am 12. Februar hat das Stück Before Nightfall von Nils Christe an der Wiener Staatsoper Premiere. Christe ist einer der drei Choreografen des Programms Meisterwerke des 20. Jahrhunderts.

Im etwa 80 Ballette umfassenden Werkverzeichnis des 63-jährigen Niederländers finden sich vorwiegend musikalische Kompositionen des 20. Jahrhunderts von Igor Strawinski bis Ludovico Einaudi. "Wenn ich diese Musik höre und die Augen schließe, sehe ich Bewegung", erklärt der "Strawinski-Fan" seine Vorliebe für die neuere Klassik.

Von Kindheit an hat Nils Christe getanzt, zuerst folkloristisch. Sein Vater war der Gründer des holländischen Volkstanzverbandes und hat in dieser Funktion immer wieder Lehrer aus Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien und Ungarn eingeladen. "Das war für mich ein fantastisches Training, vor allem in komplexen Rhythmen. Und als ich sechs war, schickten mich meine Eltern zum Ballett, damit ich ein richtiges Training bekomme."

Doch dann entschied sich der musisch Begabte zuerst für ein Musikstudium in klassischer Gitarre und Blockflöte, das er allerdings abbrach, als er mit siebzehn Jahren einen Tänzervertrag beim Nederlands Dans Theatre bekam. Doch gerade die musikalische Vorbildung nützt ihm bei der choreografischen Kreation: "Mit der Partitur entsteht die Struktur, bevor es ins Studio geht. Im Studio improvisiere ich dann und fülle die Struktur mit den Schritten."

"Wahnsinnige Energie"

Für sein Ballett Before Nightfall wählte Christe das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken von Bohuslav Martinu. "Martinu hat das Konzert unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg komponiert. Man spürt das Gefühl der Unsicherheit, dass man nicht weiß, was morgen passiert. Diese Untertöne sind sehr stark in der Musik präsent, und ich denke, das ist auch im Stück sichtbar. Das Gefühl, das ich von der Musik bekommen habe, ist, dass es von Menschen handelt, die nicht dominiert werden wollen. Besonders der erste und letzte Teil hat eine wahnsinnige Energie. Noch immer, wenn ich diese Musik höre, bekomme ich Gänsehaut, es ist ein beklemmendes Gefühl."

Before Nightfall ist sein Lieblingsballett, sagt der sympathische Choreograf. Auf Einladung von Rudolf Nurejew hat er es 1985 mit dem Pariser Opernballett kreiert. Die Besetzung bestand aus den damals sehr jungen Stars der Truppe, darunter Sylvie Guillem und der jetzige Ballettchef des Wiener Staatsballetts, Manuel Legris. "Es ist das technisch schwierigste Stück, das ich je gemacht habe, denn diese Tänzer in Paris waren so fabelhaft gut, das benützt man dann einfach. Mit diesem Ballett ist mir der Durchbruch gelungen. Ich glaube, das Wiener Staatsballett ist die sechzehnte Compagnie, die es tanzt", sagt Nils Christe.

Im dreiteiligen Programm der Meisterwerke made in France stellt Before Nightfall einen emotional starken Kontrast zu Serge Lifars Hommage an das klassische Ballett Suite en blanc zu Musik von Edouard Lalo und Roland Petits choreografischer Umsetzung des Romans L'Arlésienne von Alphonse Daudet zu Musik von Georges Bizet dar.

Bestens erinnert sich Christe noch an seine Arbeit mit den Tänzern und Tänzerinnen des Wiener Balletts, mit dem er 1982, am Anfang seiner Karriere als freischaffender Choreograf, sein Strawinski-Ballett einstudierte. Heute bedauert der Vielbeschäftigte, dass er nicht mehr Zeit hat, mit dem Wiener Staatsballett zu arbeiten, denn er attestiert ihm ebenso wie dem Orchester (unter der Leitung von Markus Lehtinen) "Weltklasseniveau".

Die Einstudierung der Choreografie besorgte seine Ehefrau Annegien Sneep, die ihre Tänzerkarriere ebenfalls beim Nederlands Dans Theatre begann. Heute studiert sie nicht nur die Werke ihres Mannes mit Ballettcompagnien auf der ganzen Welt ein - für die Wiener Premiere hat sie Before Nightfall mit neuen Kostümen ausgestattet, das Bühnenbild stammt von Thomas Rupert. Nils Christe kam nur für die Endproben nach Wien, musste vor der Premiere noch nach Arnheim zur Premiere seines Sacre du Printemps bei Introdans, für den er übrigens noch einen Wunsch hat: Gerne würde er seine Choreografie des Jahrhundertwerks zum 100. Geburtstag der Frühlingsweihe am 29. Mai 2013 wieder zur Premiere bringen. "Das kann in Wien sein, aber auch in Paris."

"Ich nenne mich nicht mehr einen holländischen Choreografen. Ich arbeite so viel weltweit, dass ich international bin. Zum Glück", sagt er ohne Eitelkeit. Denn mit einer 40-prozentigen Kulturbudgetkürzung in den Niederlanden setzt auch in der vitalen Tanzszene ein Kahlschlag ein, der viele, vor allem unabhängige, moderne Compagnien, vor das Aus stellt. Niels Christes nächste Stationen aber lauten: Düsseldorf, Paris, Singapur, Buenos Aires, Australien und Toulouse. (Edith Wolf Perez, DER STANDARD - Printausgabe, 11./12. Februar 2012)