Für Casanovas Heimfahrt (1918) musste Arthur Schnitzler Tadel einstecken. Man legte dem vor 150 Jahren geborenen Dichter die Umschweifigkeit zur Last, mit der er den Lebenslauf des berühmten Erotomanen um eine frei erfundene Episode bereicherte. Diese scheint nicht dazu angetan, den guten Ruf Giacomo Casanovas in den Augen der Nachwelt zu festigen. Weniger noch: Der venezianische Abenteurer wird in peinigender Ausführlichkeit vor dem Leser entblößt. Schnitzlers Erzählung liegt ein reizvolles Gedankenspiel zugrunde: Was tut ein berüchtigter Frauenverführer, der dem Alter Tribut zollen muss und fast am Bettelstab geht? "Gleich einem Vogel" umkreist Casanova Venedig, in dem er seit seiner spektakulären Flucht aus den Bleikammern Persona non grata ist.

In Mantua sitzt er über einer Arbeit, die den "Lästerer" Voltaire der Gottlosigkeit überführen soll. Da sucht ihn ein Gutsbesitzer namens Olivo auf. Diesem verhalf Casanova einst zur Braut, und es versteht sich, dass der Postillon d'amour sich dabei auch selbst erotisch schadlos hielt. Olivo überredet den berühmten Mann zum Landaufenthalt auf seinem Gut.

Casanova begegnet dort Olivos Frau mitsamt den drei Töchtern und schließt Bekanntschaft mit der Nichte Marcolina, in deren reizender Person die Anmut und die philosophischen Gelehrsamkeit zusammenfließen. Es kann mithin nicht verwundern, dass der alternde Beau in wildem Feuer zu der Emanzipierten entbrennt, zumal Marcolinas beherrschtes Wesen alle Avancen Casanovas zunichte macht.

Seinen Anti-Voltaire vernichtet die kluge Schöne mit ein paar Sätzen, Casanova begreift, dass er vom Nimbus der Unwiderstehlichkeit wie von einem ungedeckten Wechsel zehrt. Es bedarf einiger novellistischer Zufälle, um Casanovas Sache zu befördern: Er entdeckt, dass ein Sommergast namens Lorenzi bei der so spröde tuenden Marcolina einen Stein im Brett hat. Der Jüngling steigt durch das Fenster bei ihr ein.

Die nächsten Schritte unseres Helden sind von ingeniöser Ruchlosigkeit. Er nutzt Lorenzis Spielschulden aus und verpflichtet sich, diese zu begleichen. Dafür verlangt er von dem cholerischen Offizier eine Liebesnacht mit Marcolina, die er, in nichts als den Militärmantel seines Nebenbuhlers gehüllt, nächtens anonym beschläft.

Casanova badet in den Wonnen, die ihm Marcolina im Glauben bereitet, es mit Lorenzi zu tun zu haben. Schnitzler inszeniert nicht bloß das lächerliche Schauspiel der Verkennung, das einen alternden Mann zum Mittel des Betruges greifen lässt. Sarkastisch blendet er Casanovas Verfall und Herrlichkeit ineinander.

Das Erlöschen der Potenz mag mit der Haltlosigkeit jener Gesellschaft zusammenklingen, der Schnitzler anzugehören das nicht ganz ungetrübte Vergnügen hatte. Marcolina muss sich im Licht des Morgendämmers als hinters Licht Geführte wiedererkennen. Scham und Ekel sind ihre Abschiedsgeschenke an den Liebesnärrischen, den ein Versprechen des "Hohen Rates" endlich heim nach Venedig führt. Casanova, der Abenteurer und Don Juan, soll sich auf Geheiß der Stadtregierung als politischer Spitzel umtun. Er lässt nicht nur Marcolina zurück in Mantua, sondern obendrein eine entjungferte 13-Jährige und einen mit dem Degen erstochenen Leutnant. Das bürgerliche Zeitalter zieht herauf, die Karrieremacher verwalten die Welt. Die Früchte der erzählerischen Umständlichkeit sind vergiftet. Ein Held tritt ab.   (Ronald Pohl  / DER STANDARD, Printausgabe, 10.2.2012)