Die in Heimen angewandten Methoden waren "auch zur damaligen Zeit abseitige, periphere und sehr gewaltvolle Therapieformen", sagt die Erziehungswissenschafterin Michaela Ralser.

Foto: Universität Innsbruck

In den vergangenen Tagen meldeten sich immer mehr Betroffene mit Berichten über fragwürdige Therapiemethoden in österreichischen Kinderheimen der 1960er Jahre. Mit Elektroschocks, Röntgenbestrahlung, Tiermedikamenten und Malariaerregern sollen Kinder und Jugendliche gegen Jähzorn, Bettnässen oder sexuellen Antrieb behandelt worden sein. derStandard.at sprach darüber mit Michaela Ralser, Professorin am Innsbrucker Institut für Erziehungs wissenschaft und Leiterin eines Forschungsprojekts über Vorarlberger und Tiroler Heime.

derStandard.at: Die inkriminierten Fälle liegen zum Teil über 50 Jahre zurück. Warum werden sie erst jetzt aufgearbeitet?

Michaela Ralser: Was jetzt etwa über die Innsbrucker Psychiatrische Kinderbeobachtungsstation in der Öffentlichkeit behandelt wird, war bereits in den 1980er Jahren zum großen Teil bekannt. Der ORF berichtete schon vor mehr als 30 Jahren über diese Dinge, und auch die politisch Verantwortlichen müssen Bescheid gewusst haben, so sie über einen Fernseher verfügten. Offenbar verschwinden diese Aufmerksamkeiten, um dann wieder in den öffentlichen Fokus zu geraten.

derStandard.at: Kann man aus heutiger Perspektive beurteilen, ob das übliche Behandlungsmethoden im wissenschaftlichen Konsens waren oder auch damals schon nichts anderes als schwere Körperverletzung?

Ralser: Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man überprüft, ob es zu diesem Zeitpunkt alternative Konzepte der Obsorge und der Hilfe gegeben hat. Und da kann man heute deutlich sagen: Ja, die hat es zuhauf gegeben. Der Leiter der Psychiatrischen Klinik in Innsbruck etwa, Kornelius Kryspin-Exner, hat schon damals gesagt, dass diese Mittel – zum Beispiel die Gabe von Epiphysan – nicht dem Stand der Wissenschaft entsprächen und völlig abzulehnen seien.

derStandard.at: Die Verantwortlichen behandelten also nicht guten Gewissens psychische Krankheiten, sondern brauchten nur eine Ausrede, um bewusst systematische Feldversuche an Menschen zu machen?

Ralser: Ob diese Dinge tatsächlich experimentellen Charakter hatten, also in Versuchsreihen angelegt waren, vermag ich nicht zu beurteilen. Was man sagen kann, ist, dass diese Therapieformen auch zur damaligen Zeit und in Relation zu dem, was an Alternativen möglich gewesen wäre, als abseitig, peripher und sehr gewaltvoll zu beurteilen sind.

derStandard.at: Manche Beobachter versuchen diese disziplinierenden Therapieformen mit der Sozialisierung der verantwortlichen Ärzte und Aufseher während der NS-Zeit zu erklären – ist eine solche Prägung argumentierbar?

Ralser: Ein unmittelbarer Zusammenhang mag für einzelne Figuren stimmen. Wir haben aber – leider – eine wesentlich längere Tradition bei solchen Methoden. Die Beziehung zwischen Pädagogik und Psychiatrie, die sogenannte "Psychiatrisierung der Kindheit", hat bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert begonnen. Im Nationalsozialismus wurden dann die im beginnenden 20. Jahrhundert entwickelten Konzepte der psychopathischen Minderwertigkeit, der Erbtheorie oder der Eugenik radikalisiert und in die NS-Gesundheits- und -Vernichtungspolitik integriert.

derStandard.at: Uns erscheint es heute befremdlich, dass Wutausbrüche mit provozierten Fieberschüben kuriert werden sollten. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass in 50 Jahren ähnlich zurückgeschaut wird, weil wir Anfang des 21. Jahrhunderts Kinder mit Psychopharmaka von ADHS heilen wollten?

Ralser: Das ist aus derzeitiger Perspektive schwierig zu beantworten. Man kann aber sagen, dass es gerade heute relativ rasch einen starken medikamentösen Zugriff auf Kinder mit Schwierigkeiten gibt, etwa die Behandlung mit Ritalin bei ADHS. Ich habe erst kürzlich gehört: "Wenn ein Kind heute zwei heftige Gefühle äußert, dann müssen wir es behandeln." Dass Kindern, die dem hohen Anpassungsdruck nicht standhalten, Medikamente verabreicht werden, ist auch vom gegenwärtigen Standpunkt aus schon kritikabel – aus demselben Grund wie damals: weil es mit Erziehungstoleranz oder auch Psychotherapie Alternativen gibt, die weniger invasiv sind, also weniger in den Organismus eingreifen. Ob sich in Zukunft soziale, psychotherapeutische und damit verträglichere Methoden eher durchsetzen als neurobiologisch-medikamentöse, kann ich nicht sagen. Ich hoffe Ersteres. (derStandard.at, 10.2.2012)