Sanierung mit den Bürgern statt gegen sie: David Gulda.

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Die längste Zeit konnten wir gut auf Schulden leben. Nicht mehr. Jetzt gilt es zu planen, wie wir die Errungenschaften im entfesselten Markt erhalten und die Interessen ausgleichen können. Ein Lösungsvorschlag.

Österreich liebt die Opferrolle, wenn es Täter ist. Das gilt auch jetzt in der Wirtschaftskrise, die als veritable Sinnkrise der österreichischen und (west)europäischen sozialen Marktwirtschaft zu betrachten ist. Peter Sloterdijk bezeichnet sie als "massenmedial animierter, steuerstaatlicher Semisozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage".

Die Politik zeigt auf Banken, Spekulanten, Hedge Fonds, Ratingagenturen etc. als Schuldige an der Krise. Aber in deren Abhängigkeit haben sich Österreich und Europa selbst begeben, indem sie der Kreditversuchung erlagen und jahrzehntelang mehr ausgaben, als sie einnahmen.

Eine Einäugige unter Blinden

Das ging gut, solange sich Kreditnehmer und -geber einig waren, dass die Volkswirtschaften in der Lage sind, die geliehenen Summen samt Zinsen zu begleichen. Dieser Konsens war schon lange illusionär, aber man hatte sich damit gut eingerichtet.

Nun wurde er in Griechenland aufgekündigt, und auch für die ganze Eurozone wird bald gelten: Wir glauben nicht mehr an die Kraft zur Rückzahlung der geschuldeten Milliarden durch die Länder und Völker Europas. Denn selbst der deutsche Koloss kann nicht für alle angehäuften Verbindlichkeiten einstehen. Er kann es ja kaum für die eigenen.

Doch unter den Blinden ist der Einäugige König. Den Kreditgebern ist es vorerst lieb und recht, ihn in die Haftung zu nehmen. Er oder besser sie, Frau Merkel nämlich, wird sich letztlich vergeblich dagegen wehren, alle Lasten aufgebürdet zu bekommen.

Die Initiativen des Tandems Merkel/Sarkozy sind der Versuch, bei den Kreditgebern die Illusion der Rückzahlbarkeit der Schulden zu erneuern und die wackeligsten Kreditnehmer gleichzeitig zu disziplinieren. Die Bestrebungen bedingen einander. Schade, dass die Finanzakteure den Finger nicht früher auf die Wunde gelegt haben. Dann wäre mancher Ausgabenexzess unterblieben.

Höchste Einnahmen bei gleichzeitig höchsten Schulden erzeugen die derzeitige tiefe Sinnkrise der sozialen Marktwirtschaft, dieses Kompromisses zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Der europäische Mittelweg anerkennt zwar den Grundsatz des Privateigentums, unterläuft dieses aber gleichzeitig durch massive Besteuerung aller Lebensbereiche und verwendet die Einnahmen daraus zur Befried(ig)ung der (vermeintlich) Zukurzgekommenen nach politischem Gutdünken. Das ist die sozialistische Komponente, die Sloterdijk mit seinem eingangs zitierten Satz meint, der aber auch konservative Regierungen folgen.

Der real existierende Sozialismus in unserer Nachbarschaft ist untergegangen. Gut. Der Kapitalismus lässt uns die Schwäche Westeuropas jetzt spüren. Hart. Die Frage ist: Wäre der Weg der Mitte, der zu unserer friedlichen Wohlstandsgesellschaft geführt hat, ohne Schulden gangbar gewesen oder anders gefragt: Hätten die Leistungen des produktiven Teils des Volkes alleine ausgereicht, um die im streng wirtschaftlichen Sinn unproduktiven Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen würdig zu erhalten? In der Systemkonkurrenz von ehedem, mit Hilfe aus Übersee und schamloser Ausnutzung des kolonisierten Südens der Welt war es möglich und erzeugte nie zuvor gekannten Massenwohlstand.

Aber unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs, der in den 1970ern vorbereitet, in den 1980ern vorangetrieben, nach dem Fall des Sozialismus entfesselt wurde und heute alles wirtschaftliche und politische Handeln dominiert, geht es nicht mehr. Junge, dynamische Volkswirtschaften verlangen ihren gerechten Anteil an den Schätzen der Welt und bedrängen mit ihrer Energie die alten, trägen Gesellschaften im fetten Norden.

Mit diesem Wandel hat sich die schuldenfinanzierte Bequemlichkeit Westeuropas erschöpft, und es dämmert uns langsam, dass sich unser Lebensstil dem anpassen müssen wird, was wir selbst erarbeiten. Das Dilemma ist, dass die kreditfinanzierten Maßnahmen der Vergangenheit keineswegs alle schlecht waren. Immerhin wurden damit viele materielle und immaterielle Werte geschaffen.

Während in früheren Gesellschaften nur das Privateigentum Bürgerrechte gab und vor Lebensrisiken schützte und damit den Wohlhabenden vorbehalten war, machte der europäische Sozialstaat auch Habenichtse, die nur ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen hatten, durch die an die Arbeit geknüpfte, umfassende Sozialversicherung und das ausgebaute Arbeitsrecht zu vollwertigen Bürgern. Er schuf Frieden, indem das Kollektiv eigentumsloser Einzelner den Schutz erhielt, den sonst nur das Eigentum gewährte.

Ein Senat aus guten Köpfen

Wenn wir diese Gesellschaft in Unabhängigkeit von den Finanzmärkten bewahren wollen, dann müssen die Schulden abgetragen werden und der Zusammenhalt sowohl in der Gesellschaft als auch in der EU erneuert werden – nur das gestattet die Fortsetzung des politischen Modells Europas.

In Österreich müssen dazu öffentlicher und halböffentlicher Sektor zu privatwirtschaftlicher Effizienz finden, muss Schluss sein mit des Einzelnen Gewohnheit, auch ohne Bedürftigkeit in öffentliche Geldtöpfe zu greifen, muss die grassierende Freunderlwirtschaft mit Korruptionsneigung ebenso ein Ende haben wie der Pfusch, dürfen öffentliche Infrastrukturinvestitionen nur getätigt werden, wenn sie sich betriebswirtschaftlich rechnen etc. Und wir brauchen Investitionen in "weiche Dividendenbringer" der Zukunft wie neue Schule, Integration und kulturelle Avantgarde. Und es ist das Justizwesen als Kernelement der Rechtsstaatlichkeit zu festigen.

Dafür werden neben dem Sparen Steuern, Abgaben, Gebühren etc. neu eingeführt und erhöht werden müssen. Sie werden noch stärkeren konfiskatorischen Charakter erlangen als ohnehin schon und deswegen bessere demokratische Kontrolle brauchen.

Hier ein Lösungsvorschlag zum Interessenausgleich: Der Erhöhungsfaktor von Einkommens-, Lohn- und Körperschaftssteuern, Vermögenssteuern aller Art, wieder eingeführten Erbschafts- und Schenkungssteuern etc. ist Zwecken zu widmen, die der Steuerpflichtige selbst bestimmt.

Etwa so: Eine 100-köpfige Versammlung von Vertretern der Zivilgesellschaft (ohne Teilnehmer aus dem Politfilz von Parteien, Kammern etc.), ein Senat aus guten Köpfen, produziert für jedes Jahr eine Aufstellung aus den insgesamt 100 dringlichsten Zwecken der durch die Ministerien betreuten Ressorts mit je maximal zehn bestimmten Vorhaben. Daraus hat jeder Steuerpflichtige fünf Vorhaben aus drei verschiedenen Sachbereichen auszuwählen und zu bestimmen, welchen er welchen Anteil seiner zusätzlichen Steuerleistung widmet.

So müssten sich die Proponenten eines Vorhabens um die Zustimmung der Bürger bemühen. Diese behalten das Schicksal ihres Obolus im Auge und fordern Rechenschaft über dessen Verwendung. Nebeneffekt: Der Staat und seine Repräsentanten sähen sich zunehmend mündigeren Bürgern gegenüber. Das macht die Sache des Regierens schwerer. Dafür würden die Steuerpflichtigen ihr Geld lieber geben, weil sie wüssten, wofür. Das macht das Regieren wieder leichter, wenn man die richtigen Vorhaben verständlich erläutert und durchführt.

Die skizzierte Steuerdemokratie könnte ein Mittel dazu sein, das Engagement der Bürger zu gewinnen. Die Geheimniskrämerei der Regierung um das Sanierungspaket ist dafür sicher keine passende Voraussetzung. Aber noch wäre es möglich, den unvermeidlichen Sanierungspfad mit den Bürgern statt gegen sie zu gestalten und zu beschreiten.

David Gulda (56), Jurist und Kaufmann, ist Geschäftsführer einer privaten Tiroler Unternehmensgruppe mit Schwerpunkt Transport & Logistik. (David Gulda, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4./5.2.2012)