Die andauernde Krise entwickelt sich zunehmend zum Spaltpilz der Eurozone. Parallel dazu wächst die Sorge, dass die erfolgreiche Integration Europas leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird und die Anstrengungen von sechs Jahrzehnten verloren gehen. War der europäische Traum von Anfang an eine Sackgasse oder greift die Debatte um die Finanzen zu kurz?

Geht es um Europa, haben die Skeptiker derzeit ein besonders leichtes Spiel. Mühelos besitzen sie die Hoheit über die Stammtische. Wie immer in schweren Zeiten schlägt auch diesmal die Stunde der "schrecklichen Vereinfacher".

Zweifel, wer für die missliche Lage verantwortlich ist, lassen sie gar nicht aufkommen. "Brüssel" agiert demnach abgehoben und inkompetent zugleich. Unverständnis und Hilflosigkeit brauchen schließlich einen Sündenbock. Dagegen wird den wenigen noch verbliebenen Visionären, die die idealistische Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, dass nationalistisches Denken einem guten Europäertum weichen wird, Spott und Hohn entgegengebracht. 

Aber nicht nur das Krisengerede, auch ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel kommt den Kritikern entgegen: Die am Beginn stehenden Ängste vor einem weiteren Krieg haben ihre Geschichtsmächtigkeit eingebüßt. Der soziale Mechanismus, der die Erfahrungen von früher mit denjenigen von heute verbindet, besteht kaum noch. Viel zu sehr wachsen wir in einer Art permanenter Gegenwart auf, in der Wohlstand und Frieden als selbstverständlich und nicht als Folge eines generationsübergreifenden, jahrzehntelangen Bemühens gesehen werden.

Ohne ein historisches Bewusstsein aber werden nicht nur kleinere soziale "Dellen" dramatisch überbewertet, sondern wird auch die EU auf einen zentralistischen Bürokratiemoloch reduziert, noch dazu auf einen, der sich wenig um die Meinung des Volkes schert.

"Nie wieder Krieg" war ein Paradigmenwechsel

Wie sehr die Finanzkrise Europa auch treffen mag, verantwortlich dafür ist - jenseits billiger Schuldzuweisungen - primär ein vom angloamerikanischen Raum ausgehendes neoliberales Wirtschaftsmodell. Aber es geht ohnehin um viel mehr als um aktuelle Befindlichkeiten.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat Europa einen radikalen Gegenentwurf zu seiner unsäglichen Geschichte vorgelegt. Anstelle all des Schreckens früherer Epochen wie Kolonialismus, Faschismus und Kommunismus hat man auf Werte wie Demokratie, Menschenrechte und allgemeine Wohlfahrt gebaut. Nicht mehr aggressive Machtpolitik, sondern Wohlstand für (fast) alle war von nun an die Devise.

Ein Scheitern des europäischen Projektes wäre daher nicht nur eine Bankrotterklärung gegenüber dem Rest der Welt, sondern zuallererst ein Verrat an jenen Idealisten, die vor uns da waren.

Lag der Krieg bis dahin als apokalyptische Plage wie ein nicht enden wollender Fluch über Europa, haben diese in einem beispiellosen Paradigmenwechsel den "gordische Knoten" zerschlagen. Sie haben erkannt, dass mit den Strafmaßnahmen nach dem Ersten Weltkrieg das Grundübel in der Mitte Europas, die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, nicht beendet werden konnte.

Jetzt, nach weiteren 50 Millionen Toten, war endlich allen bewusst, dass "Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" ausgedient hatte und es Zeit für etwas ganz Neues war. Etwas, was es bisher noch nicht gegeben hatte: kein Niederknechten des Verlierers mehr, sondern eine Einladung zur Zusammenarbeit.

Das Beste, was diesem Kontinent bisher widerfahren ist

Der Weg, den Europa nach 1945 gegangen ist, war mühsam, aber erfolgreich. Heute ist die Europäische Union die erfolgreichste multinationale Organisation der Welt mit einer Freihandelszone für 500 Millionen Menschen und einem noch nie da gewesenen Maß an Zusammenarbeit, Frieden und Sicherheit.

Wir alle sind Nutznießer dieser jahrzehntelangen Anstrengungen. Und doch wollen viele diesen Weg nicht länger mitgehen. Sie sind aus Prinzip gegen eine europäische Einigung, und die "Vereinigten Staaten von Europa" sind ihnen geradezu ein Albtraum.

Die einschlägigen Leserbriefe in der "Krone" legen tagtäglich Zeugnis davon ab. Sie beteuern zwar, die EU als Friedensprojekt zu begrüßen, wettern aber gleichzeitig massiv gegen Brüssel. Einmal ist es die Regulierungswut, dann der nicht nachvollziehbare Förderdschungel und ein anderes Mal die Privilegien für den Beamtenapparat. Alles vermutlich nicht ganz falsch, aber man bringt damit absichtlich das Untere nach oben und diskreditiert das übergeordnete Ziel.

Viele Kritiker dürften nach dem Motto "Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen" handeln. Den Frieden innerhalb Europas halten sie auch ohne EU für gesichert. Eine naive und gefährliche Haltung, zumal ein Zerfall der Union zwangsläufig nationalistische Bestrebungen fördern würde. So wenig Wohlstand und Frieden in den letzten Jahrzehnten selbstverständlich waren, so wenig sicher sind sie in Zukunft. Einen diesbezüglichen Automatismus gibt es nicht.

Europa braucht eine gemeinsame Identität

Jetzt rächt sich, dass die Integration Europas nach wie vor ein Elitenprojekt ist. Der Eindruck, dass über die Köpfe der BürgerInnen hinweg regiert wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Bevölkerung füllt sich überfahren und bestenfalls zwangsbeglückt.

Es fehlt nach wie vor ein europäisches "Wir-Gefühl". Für das ohnehin langfristige Ziel der Überwindung der Nationalstaatlichkeit wird entscheidend sein, ob die für das persönliche Umfeld so wichtigen lokalen Besonderheiten erhalten bleiben. Heimatgefühl, kulturelle Eigenheiten und die bessere Überschaubarkeit kleinerer Einheiten geben dem Menschen Sicherheit und Selbstvertrauen. Darauf hat er ein Anrecht, und nur wenn das gewährleistet bleibt, wird auch eine europäische Identität möglich werden.

Ein "Europa der Regionen" und die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips sollten daher nicht nur Schlagwörter bleiben. In diesem Sinne würden eine Behebung des aktuellen Demokratiedefizits und das Abstellen der bürokratischen Dreistigkeit, alles bis ins Kleinste regeln zu wollen, viel zu einem positiveren Europaverständnis beitragen.

Am Ziel sollte idealerweise eine doppelte Identität stehen: eine, die uns verbunden hält mit unserer Heimat (Ober-)Österreich, aber auch eine, die uns zu stolzen Bürgern Europas macht. Sowohl die Verantwortung für das Erbe der Gründerväter als auch die zukünftigen Herausforderungen einer neuen Weltordnung verpflichten uns, den eingeschlagenen gemeinsamen Weg weiterzugehen. Wie Hugo Portisch meinte: "Europa kann und wird gelingen. Man muss es nur wollen." (derStandard.at, 9.2.2012)