In Deutschland gilt „Hartz IV“ immer noch als Unwort, das Assoziationen mit Kinderarmut, soziale Grausamkeit, Geldverschwendung und überbordende Bürokratie hervorruft.

Aber unter Deutschlands Handelspartnern wird Gerhard Schröders Agenda 2010, dessen Herzstück die Hartz-IV-Reformen waren, immer mehr zum Modell einer erfolgreichen und zukunftsweisenden Wirtschaftspolitik hochstilisiert.

Der ehemalige deutsche Kanzler wird vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy offen als Vorbild genannt und dürfte auch den italienischen Premier Mario Monti bei seinen Arbeitsmarktreformen inspirieren.

Und der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama bezeichnet im Spiegel-Interview Schröders Programm auch für die USA als vorbildhaften Weg, wie man gleichzeitig eine dynamische und gerechtere Wirtschaftsordnung schaffen kann.  

Die Ironie daran ist, dass Schröders rot-grüne Regierung letztlich an der Agenda 2010 gescheitert ist. Die von 2003 bis 2005 durchgeführten Reformen, und hier vor allem Hartz IV, wurden innerhalb der Sozialdemokratie so heftig kritisiert, dass Schröder nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen keine andere Möglichkeit mehr sah, als in vorgezogene Neuwahlen zu flüchten, die er dann im Oktober 2005 knapp gegen Angela Merkels CDU verlor.

Aber gerade diese Niederlage macht Schröder in den Augen vieler zu einem Helden: Ein Politiker, der für die notwendigen, schmerzhaften Reformen seine Macht opferte aber damit dem Land einen nachhaltigen Aufschwung ermöglichte.

Vieles an dieser Geschichte ist wahr: Schröder und seine Mitstreiter – Franz Müntefering, Wolfgang Clement und auch Grünen-Chef Joschka Fischer – haben damals tatsächlich über den nächsten Wahltermin hinausgedacht.

Die Reformen des Arbeitsmarktes und Sozialsystems waren bitter notwendig – Deutschland galt als „kranker Mann Europas“ –, aber politisch äußerst schwierig. Schröder ging es dennoch an und schuf damit den Grundstein für das neue deutsche Wirtschaftswunder, das dann ab dem Jahr 2007 wirklich einsetzte.

Das war wohl auch Sarkozys ursprünglicher Plan, wobei er aber allzu oft vor unpopulären Schritten zurückgeschreckt ist, ohne dass ihm das in der Bevölkerung viel genützt hat. Aber Frankreich ist ein schwierigeres Pflaster für Reformen als Deutschland, wo eine Mehrheit der Bürger immer schon zu kurzfristigem Verzicht  bereit war.

Aber der unglaubliche wirtschaftliche Erfolg Deutschlands lässt sich  nur zum Teil durch die Agenda 2010 erklären. Genauso wichtig, oder noch wichtiger, war die jahrelange Zurückhaltung der Gewerkschaften in den Lohnverhandlungenm dank der die Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft auf Rekordwerte stieg - leider auf Kosten vieler Handelspartner. Diese hatte eher nur atmosphärisch mit der Agenda 2010 zu tun.

 Und auch das hätte nichts genützt, wenn Deutschland nicht ein so erfolgreiches Netz von Mittelstandsunternehmen hätte, die gerade in jenen hochspezialisierten Industriebereichen tätig wären, die vom Aufschwung in China und anderen Schwellenländern so stark profitieren.

Vor der Agenda 2010 hatte Deutschland eines der teuersten und schwerfälligsten Sozialsysteme Europas. Heute ist es für das Land keine Achillesferse mehr, aber auch kein besonderes Plus.

Obwohl die Sozialsysteme schwer zu vergleichen sind und sich in Details ständig wandeln, ist die  deutsche in gewissen Aspekten immer noch großzügiger als das österreichische. Vor allem aber ist der Arbeitsmarkt in Österreich weiterhin deutlich flexibler – vor allem der Kündigungsschutz ist lockerer als in Deutschland, wo Dienstverträge in allen Fällen nur mit Begründung beendet werden können.

Es liegt wohl an der Agenda 2010, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland mit 5,5 Prozent (EU-Berechnung) heute schon knapp an den Spitzenwerten von Österreich und den Niederlanden liegt und nicht mehr doppelt so hoch wie vor einem Jahrzehnt.

Viele dieser neuen Jobs sind Teilzeit- und Billigjobs, aber dies ist – das haben die Deutschen inzwischen gelernt – ist besser als hohe strukturelle Arbeitslosigkeit.

Schröders Politik hat jedenfalls gezeigt, dass Strukturreformen einen tatsächlichen Nutzen bringen und deren Umsetzung auch in den Schuldenstaaten Südeuropas heute wichtiger wären als ein noch so striktes Sparprogramm.

Aber die Wahrheit ist, dass gerade die sinnvollsten Reformen die politisch schwierigsten sind, weil sie Interessensgruppen ganz direkt treffen. Auch Monti wird es leichter haben, Staatsausgaben stur zu kürzen als den verkrusteten Arbeitsmarkt aufzubrechen und den vielen modernen Zünften – von Taxifahrern über Apotheker und Notare – ihre Monopolstellung zu nehmen.

So gesehen war Schröders Agenda 2010 tatsächlich ein modernes Heldenepos, von dem andere Regierungschefs einiges lernen könnten - einschließlich dem Wissen, dass gute Wirtschaftspolitik oft unbelohnt bleibt.