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Régis Jauffret beschreibt die Schrecknisse im Kellerverlies. 

Foto: Archiv

Ein Grab zu öffnen kann kein friedlicher Akt sein. Régis Jauffret ist der Gewalt aber noch nie aus dem Weg gegangen. Sein vorletztes Buch galt der Ermordung in Latex des Genfer Bankiers und Sadomaso-Praktikers Edouard Stern. Bei Piper ist dieser Roman unter dem deutschen Titel Streng erschienen.

Jetzt steigt der 56-jährige, mehrfach preisgekrönte Autor in die Abgründe eines österreichischen Kellerverlieses. Der im Pariser Großverlag Seuil erschienene Roman Claustria ist eine Mischung aus Fiktion und Fakten.

Die Erzählung beginnt im Jahre 2055, als "der letzte Überlebende des kleinen Kellervolkes" 52 Jahre alt ist. Dessen Vater und Großvater - er trägt in dem Roman übrigens als Einziger seinen richtigen Vor- und Nachnamen - ist längst tot. Seine eigenen Geschwister auch: "Die frische Luft hatte sie wie eine tödliche Ausdünstung langsam umgebracht."

Amstetten sei nun eine "begrünte Stadt", beim Betreten der örtlichen Moschee streife man die Schuhe ab.

Dann wird die Zeit zurückgedreht. Es ist November 2008, und Jauffret reist in seinem "Roman" selbst an den Ort des Grauens. Er recherchiert, besucht den Gerichtsprozess. "Ich rechnete nicht damit, an einer Straßenecke Hitler zu treffen", meint er plötzlich.

Die Tochter von Josef F. habe ihre Memoiren für 25 Millionen Dollar verkauft, liest man. "Die Verlagsredaktoren ließen sie aussagen, ihr Vater habe Mein Kampf gelesen." Oft sei die Tochter von ihren Kindern gefragt worden: "Und Papa? Wo ist Papa?" Sie habe sie "mit einem Klaps zum Schweigen gebracht". Es folgen die ersten Kellerszenen.

"Ich kann mir vorstellen, wie ich ermordet, verstümmelt, gefoltert werde. Aber es gelingt mir nicht, mir vorzustellen, 24 Stunden lang in einem Loch zu verbringen", sagt eine Bekannte Jauffrets in dem Buch. Und zu den Lesern: "Versuchen Sie's, Sie schaffen es auch nicht. Vielleicht eine Woche, vielleicht vier Wochen. In der folgenden Nacht haben Sie Angst einzuschlafen."

Jauffret versucht es trotzdem. Er beschreibt, wie F. seiner zwölfjährigen Tochter Gewalt antut. Wie er ihren Kopf an die Wand knallt, ihr die Zähne bricht, ihr sechs Kinder macht. Ihr dann Morphium gibt. "Ich werde dir beibringen, wie man sich schminkt", sagt er auch zu ihr. Vergewaltigung, Inzest, im tiefsten Abgrund sogar das Sehnen danach: die Tochter in "fiebriger Erwartung des einzigen Penis auf der Welt, der jemals in diesen Keller dringen würde."

Wider die Verdrängung

Jauffret sagt das Unsägliche, und er schreibt selbst mit dem Brecheisen, als wollte er "diesem Land, das in seinem Untergeschoß noch den Nazismus praktiziert", die Augen mit Gewalt öffnen. Er nennt die Dinge beim Namen, um sie ins Bewusstsein zu zerren, wider die Verdrängung, die natürlich auch F. befällt, wenn er nach seiner Festnahme um Haftbefreiung ersucht, weil er "im Sommer gerne eine Woche an die Sonne verreist".

Jauffret betreibt weder Voyeurismus noch Österreich-Bashing, er beschreibt das Unerträgliche, um zu sagen, wie unerträglich die Wirklichkeit war. Sich durch mehr als 500 Seiten Claustria durchzukämpfen, vermittelt einem selbst ein Gefühl der Klaustrophobie, des Gefangenseins in diesem Fall und in dem Kellerloch bei den "Kindern von unten", wie sie Jauffret nennt.

Irgendwann verlieren die Wörter ihren Sinn, sie werden leer und verbleichen wie das Leben unter Tage. Ein realer Roman ist vielleicht die richtige Art, sich dem Fall F. zu nähern: Beim Lesen herrscht Schweigen. Und man merkt, dass man sich diese Realität eben doch nicht vorstellen kann. Jauffrets Roman hat einige Längen und Schwächen.

Der puzzlehafte Bericht ergibt kein Ganzes, das Nebeneinander von Fiktion und Bericht wirkt bisweilen störend. In Frankreich ist der Roman ein großer Erfolg, wurden doch in gut zwei Wochen schon 25 000 Exemplare von Claustria verkauft. Im Herbst soll, unter dem gleichen Titel, die deutsche Übersetzung erscheinen, wie der Salzburger Ecowin-Verlag dem STANDARD bestätigte. (Stefan Brändle, DER STANDARD - Printausgabe, 2. Februar 2012)