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Stoßdämpfer der Dickhäuter als Forschungsobjekt: Wie bei Elefanten eine sechste Zehe entsteht, ist unter Wissenschaftern und Veterinärmedizinern umstritten.

Foto: AP

Irgendwie sehen sie aus, als gehörten sie nicht zu unserer Zeit. Riesige Ohren, bis zu vier Meter Schulterhöhe und sechs Tonnen Gewicht: Loxodonta africana, der Afrikanische Elefant, ist die größte lebende Landtierspezies der Erde. Doch in freier Natur muten die Giganten überhaupt nicht schwerfällig an. Eine wildlebende Elefantenherde wirkt meist heiter und vital, strahlt manchmal sogar etwas Beschwingtes aus. Im Vergleich dazu machen ihre Artgenossen im Zoo nur einen tumben Eindruck.

Elefanten haben den Menschen schon immer fasziniert. Die Römer ließen die Dickhäuter in ihren Arenen auftreten und setzten sie zu militärischen Zwecken ein. In Indien verehren Hindus unter anderem den elefantenköpfigen Gott Ganesha. Dort und in Teilen Südostasiens werden Elefanten auch heute noch als Lasttiere eingesetzt. Doch trotz dieser jahrhundertealten Begeisterung werfen die Tiere der Wissenschaft noch immer erstaunlich viele Fragen auf. Die Anatomie der Rüsselträger ist nach wie vor nicht vollständig erforscht. Nur wenige Experten kennen sich auf diesem Gebiet wirklich aus.

Gerald Weissengruber ist einer von ihnen. Der Tierarzt ist als Forscher an der Veterinärmedizinischen Universität Wien tätig und befasst sich seit einigen Jahren intensiv mit dem Körperbau von Elefanten. "Es gibt in der Literatur nur sehr wenig Daten darüber", sagt er im Gespräch mit dem Standard. Natürlich findet man Beschreibungen, Notizen und Zeichnungen, sogar von Gelehrten aus dem 17. Jahrhundert. Dieses Material ist allerdings nicht immer zuverlässig.

Als besonders umstritten gilt unter Elefantenforschern derzeit die Existenz der rätselhaften "sechsten Zehe". Sie wurde erstmalig 1710 in einem Bericht des Arztes und Naturkundlers Patrick Blair erwähnt und neulich anhand anatomischer Untersuchungen eines britisch-deutschen Forschungsteams angeblich bestätigt (vgl. Science, Bd. 334, S. 1699), aber Gerald Weissengruber zweifelt die Schlussfolgerungen dieser Studie an.

Verknöcherter Knorpel

Sicher, es gibt bei Elefanten diese knorpelige Struktur, die von den Fußwurzelknochen aus schräg nach unten in das Sohlenpolster hineinragt, sagt der Wissenschafter, doch ein Sesambein, wie die Kollegen im Fachmagazin Science behaupten, sei das nicht unbedingt. Vermutlich handle es sich stattdessen um sekundär verknöcherte Knorpel.

Sesamknochen oder Knorpelstruktur? Was dem Laien als skurriler Gelehrtenstreit erscheinen mag, hat evolutionsbiologisch gesehen durchaus Bedeutung. Sesambeine, die aus Sehnen entstammen, haben sich bei manchen Vierbeinern zu wichtigen Körperteilen gemausert, darunter der berühmte "Pseudodaumen" Großer Pandas.

Wenn Elefanten ebenfalls solche Strukturen entwickelt hätten, wäre dies als klare Anpassung des typischen, gestreckten Fußaufbaus bei gleichzeitig hohem Gewicht zu werten. Schließlich sind die Dickhäuter, anatomisch gesehen, Zehengänger, ähnlich wie Pferde.

Es könnte aber auch völlig anders sein, wie Gerald Weissengruber betont. "Ein Sesambein ist immer mit einer Sehne oder Muskeln verbunden." Bei der mutmaßlichen sechsten Zehe der Elefanten sei dies jedoch nicht der Fall. "Auch die Erklärung, dass das durch Verknöcherung passiere, stimmt nicht ganz." Sie ist anscheinend nicht durchgängig und tritt erst in fortgeschrittenem Alter auf. "Das ist eine ganz vage Angelegenheit", meint Weissengruber.

Wucherndes Gewebe

Möglicherweise handelt es sich bei der rätselhaften Struktur lediglich um eine krankhafte Veränderung. "Bei verschiedenen Knorpeln von Säugetieren gibt es das Phänomen der Metaplasie", sagt Gerald Weissengruber. Das Knorpelgewebe beginnt praktisch zu wuchern und kann auch teilweise verknöchern.

Bei in Gefangenschaft gehaltenen Elefanten könnte dies in den Füßen als Folge einer nicht artgerechten Haltung auf zu hartem Boden geschehen, meint der Veterinärmediziner. Und das britisch-deutsche Team habe nur Zootiere untersucht.

Dass Elefantenfüße auch ohne knöcherne sechste Zehe problemlos das gewaltige Körpergewicht tragen können, scheint durchaus wahrscheinlich. Die mächtigen Pols-ter, die unter- halb der Fußwurzelknochen am stärksten sind, bestehen nicht nur aus Fett.

Weissengruber hat sie bereits früher zusammen mit einigen Kollegen, darunter auch John Hutchinson, Erstautor der obengenannten Science -Publikation, detailliert untersucht (vgl.: Journal of Anatomy, Bd. 209, S. 781). Die Kissen weisen komplexe, kollagenfaserige Bindegewebsstrukturen auf. Dazwischen befinden sich kleine fettgefüllte Kammern. Die stoßdämpfende Wirkung dieser Konstrukte muss enorm sein. Ein Meisterwerk der Natur.

Anatomie des Rüssels

Neben der weiteren Erforschung von Elefantenbeinen will Gerald Weissengruber bald auch die Anatomie von Rüssel, Rachenraum, Brust- und Bauchhöhle vollständig aufklären, denn auch hier gibt es noch große Wissenslücken zu füllen. Begünstigt werden diese Projekte durch eine Kooperation zwischen der Veterinärmedizinischen Universität und der südafrikanischen University of Pretoria.

Diese Hochschule kann den Wiener Experten in Südafrika vor Ort tote wildlebende Elefanten als Untersuchungsmaterial zur Verfügung stellen. Transport und Lagerung sind auch dort "irrsinnig teuer", betont Weissengruber. Man wird sehen, ob sich auch bei diesen Tieren die seltsame "sechste Zehe" findet. (DER STANDARD, Printausgabe, 01.02.2012)