Valentina Vasiljevna war 40 Jahre lang Schauspielerin.

Foto: DER STANDARD/Springer

Lubov Vladimirovna lebt mit Katze Marie in einer kleinen Wohnung in Saltovka, einer Arbeitersiedlung in der ukrainischen Stadt Charkiw. Sie muss mit rund 130 Euro im Monat auskommen.

Foto: DER STANDARD/Springer
Foto: DER STANDARD/Springer

Minus 17 Grad. Heikle Temperaturen für den Naturrasen im Stadion des Fußballklubs Metalist in Charkiw - einer der vier Städte in der Ukraine, wo im Sommer Fußballteams um den EM-Titel kämpfen werden. Das Spielfeld ist mit einer gepolsterten Plane abgedeckt, zeitweise wird diese angehoben, damit das Spezialgrün, das rund drei Millionen Euro gekostet haben soll, nicht eingeht.

Svieta hat ganz andere Sorgen: Behelfsmäßig beheizt sie ihre Wohnung mit einem Elektrogerät, das aussieht wie ein alter Ofen und in der Tür zwischen den zwei Wohnräumen zur Stolperfalle wird. In Küche und Vorraum verwandelt der Winter den Atem in Wölkchen. Dutzende Menschen sind in den vergangenen Tagen in der sibirischen Kälte in Osteuropa erfroren, in der Nacht auf Montag waren es sechs Kältetote allein in der Ukraine.

Keine Jobs

Svieta erhält 1300 Hrywnja (rund 120 Euro) Sozialhilfe im Monat. Drei Kinder hat sie, eines liegt im Spital. Ihr Bruder und ihre Mutter, in deren Haus sie lebt, schießen der Alleinerzieherin Geld zu. Die 28-Jährige hat keinen Job. "Ich passe auf die Kinder auf", erklärt sie. Ein Arbeitsplatz ist in der 1,6-Millionen-Stadt schwer zu bekommen. Selbst gut qualifizierte junge Menschen finden kaum Jobs, sagt Ludmilla Sotnikowa, Leiterin eines Bezirksjugendamtes. Zudem fehlen Kinderbetreuungsangebote, wie es sie in der Sowjetunion noch gab, sagt Andrei Andrieko, Leiter des "Sozialen Hilfsdienstes", einer NGO. Das Bildungsbudget sei viel kleiner.

Für Svietas Tochter (6) und ihren Sohn (11) existiert trotzdem ein Ort, an dem sie einen Nachmittag pro Woche außerhalb des engen Zuhauses verbringen können. Wie übergroße Mauern erheben sich die neunstöckigen Plattenbauten Saltovkas - einem Viertel, in dem einst mehr als eine halbe Million Fabriksarbeiter lebten - um das kleine Haus, in dem der Soziale Hilfsdienst mithilfe der Caritas kostenlose Freizeitbeschäftigungen für 200 Kinder benachteiligter Familien anbietet.

Dort wird gemalt, getanzt, getextet und musiziert. Die Drei- bis 18-Jährigen erhalten eine warme Mahlzeit, in einem Raum, dessen spärliche Wärme die Finger klamm werden lässt. NGO-Leiter Andrieko sagt, die Kinder aus tristen Verhältnissen sollen "eine andere Seite des Lebens entdecken".

Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogen und Gewalt

Rodions braune Augen fixieren einen Bildschirm. Der Elfjährige will Designer oder Comiczeichner werden und hat den Journalismuskurs belegt. Rodion lebt wie 38 andere Buben und Mädchen in Kinderhäusern der Caritas. Von den jungen Bewohnern der drei hellen Gebäude, die hinter einem kleinen Wäldchen abseits der Stadthektik errichtet wurden, sind nur zwei tatsächlich elternlos.

Alle anderen wurden vom Jugendamt aus den Familien geholt, weil sie dort verwahrlosten. Oft ist es eine Endlosspirale aus Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogen und Gewalt, in die ihre Eltern gerieten. Auch in den Kinderhäusern werden Kurse angeboten - Töpfern, Tischlern oder Modellbau. Rodion lernt Kochen. Am liebsten kocht er typisch ukrainische Teigtaschen. Eines Tages will er nach Paris gehen.

Valentina Vasiljevna war dort schon. 40 Jahre verbrachte sie auf den Bühnen der Welt, traf auch einmal Charles de Gaulle. Heute ist sie 97 Jahre alt, ihr Haar ist weiß, ihre Beine sind schwach. Sie hatte ein gutes Leben, sagt sie. Aus ihrem Blick, mit dem sie einst einen ganzen Theatersaal in den Bann zog, blitzt das Leben.

Nähgruppe als Sinn im Leben

Vor acht Jahren war dieses Leuchten erloschen. Innerhalb einer Woche verlor Vasiljevna Mann und Sohn. Eine Freundin überredete sie in dieser schweren Zeit, ins Seniorenzentrum mitzukommen. Dort entdeckte sie einen neuen Sinn im Leben, gründete eine Nähgruppe. "Bevor ich gehe, will ich noch etwas weitergeben", sagt Vasiljevna. "Zweite Jugend" heißt die ebenfalls von der Caritas unterstützte Einrichtung, deren Chor immer wieder für Auftritte gebucht wird. In einem Lied singt die Gruppe: "Das Leben fliegt vorbei wie die Vögel am Himmel, und wir haben keine Zeit, zurückzublicken."

Lubov Vladimirovna tut es dennoch. Früher war vieles besser, meint die 80-Jährige. Früher, im Kommunismus. Es ist eine Meinung, die man in Charkiw öfter hört. Kiew liegt hier weiter weg als die russische Grenze. Rund 230 Euro haben die Menschen pro Monat im Schnitt zum Leben, Vladimirovna, die in einer kleinen Wohnung in Saltovka lebt, etwa 100 Euro weniger. 40 Jahre lang war sie Fabriksarbeiterin. Sie hat Krebs, chronische Bronchitis, Magen- und Nierenleiden. Dass sie jemand pflegt und ihre Medikamente bezahlt, verdankt sie Andriekos NGO.

Zur Fußball-EM hat die Pensionistin nicht viel zu sagen. Nur, dass der Staat die Kosten tragen soll. Zu einem Großteil tut er das auch. 30 Prozent der kolportierten neun Milliarden Euro Kosten sollte der Steuerzahler übernehmen, 70 Prozent die Investoren. "Inzwischen ist es umgekehrt", sagt ein Charkiwer Journalist. Was mit dem Geld passierte, werden Svieta oder Rodion nur bemerken, wenn sie mit dem Bus über eine renovierte Straße rollen. Das meiste Geld aber floss in den Stadionumbau, die Errichtung teurer Hotels und den VIP-Terminal am Flughafen. (Gudrun Springer aus Charkiw, DER STANDARD, Printausgabe, 31.1.2012)