"Ich lebe gerne mit den vielen Dingen, ich habe sie gerne um mich. Aber ich kann halt niemanden mehr in die Wohnung lassen."

 

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"Von allen Seiten kommt der gute Rat: 'Schmeiß das alles weg', aber das ist so, wie jemandem, der an einer Depression leidet, zu sagen: 'Reiß dich zusammen'", erklärt eine der Betroffenen.

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Menschen, die Hilfe brauchen, haben oft Skrupel, sich jemandem anzuvertrauen...

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... Sie wollen nicht mit dem medial vermittelten Bild im Müll erstickender Menschen gleichgesetzt werden.

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Dienstag, 20.30 Uhr. Der offizielle Teil der Messie-Selbsthilfegruppe an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien ist vorbei (siehe Artikel). "Begleiten Sie uns noch zum Chinesen?" - "Wenn ich nicht störe?" - "Im Gegenteil. Sie werden sehen, da wird es erst richtig spannend", wird mir von den Teilnehmern der Selbsthilfegruppe ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht.

"Ich kann halt niemanden mehr in die Wohnung lassen"

Etwa zwölf Personen sammeln sich um einen langen Tisch im China-Restaurant in Wien-Erdberg. Mein Gegenüber ist ein Herr Mitte 60, der mir großzügig das Du-Wort anbietet. Er ordert ein Nudelgericht mit Hühnerfleisch. Die eine Hälfte isst er selbst, die andere lässt er sich einpacken. "Weißt du, ich habe eine niedrige Pension und meine Mutter isst das so gerne."

Weshalb er die Selbsthilfegruppe für Messies besucht? "Mein Cousin hat gesagt, ich muss was unternehmen. Ich selbst finde eigentlich nicht, dass ich zu viele Sachen habe." Ob er keinen Leidensdruck verspüre? "Nein, ich lebe gerne mit den vielen Dingen, ich habe sie gerne um mich. Aber ich kann halt niemanden mehr in die Wohnung lassen."

Unkenntnis und Unverständnis

Während des Essens entwickeln sich Unterhaltungen über das Wesen des Messie-Syndroms und über das Leid der Betroffenen. Am Unverständnis der Mitmenschen haben praktisch alle hier Versammelten zu leiden. "Von allen Seiten kommt der gute Rat: 'Schmeiß das alles weg', aber das ist so, wie jemandem, der an einer Depression leidet, zu sagen: 'Reiß dich zusammen'", erklärt eine der Betroffenen. Während Depressionen heute gesellschaftlich weitgehend bekannt und akzeptiert sind, sei das beim Messie-Syndrom (noch) nicht der Fall. Was bis hin zur Niederschrift des hier wiedergegebenen Abends reicht: Das Textverarbeitungsprogramm kennt den Begriff "Messies" nicht, unterwellt ihn hartnäckig rot.

Mit Messies Quote machen

In der Öffentlichkeit wird die Erkrankung vorwiegend von Boulevardmedien und "Life-Doku"-TV-Formaten ins Rampenlicht gezerrt. Im Vordergrund stehen sensationalistische Aspekte wie Berge von Müll, Verwahrlosung und damit einhergehender Ekel. Dementsprechend groß ist das Informationsdefizit.

Menschen, die Hilfe brauchen, haben Skrupel, sich jemandem anzuvertrauen. Sie wollen nicht mit dem medial vermittelten Bild im Müll erstickender Menschen gleichgesetzt werden. "Dabei gibt es viele verschiedene Arten von Messies", sagt Andreas. Er verfügt über einen gut bezahlten Job, ein großes Haus, ist ein aktiver, kommunikativer Mensch und hat es eigentlich nicht notwendig, Dinge zu horten, meint er. "Aber da setzt das Rationale aus. Egal ob Schnäppchen vom Hofer, Raritäten vom Flohmarkt oder Fundstücke von der Straße, ich bilde mir ein, ich kann das alles brauchen." Das ist einer der Punkte, die Messies von Sammlern unterscheiden: Während Letztere gezielt sammeln, können Messies einfach alles brauchen. Glauben sie.

Als Andreas' Keller einmal durch einen Wasserschaden überflutet wurde, stellte sich bei ihm Erleichterung ein: "Endlich konnte ich alles wegschmeißen." Doch schnell war das Haus wieder aufgefüllt.

Lange Zeit dachte Andreas, er habe kein Problem mit den vielen Dingen, nur keine Zeit, sie zu nutzen. Bis er eine TV-Doku aus der Reihe "Am Schauplatz" über Messies sah. "Ich erkannte: Das bin ja ich. Dann habe ich begonnen, Hilfe zu suchen. Was alles andere als einfach war, denn das Messietum ist mit einer derartigen Scham verbunden ..." Seit einigen Jahren besucht er nun die Gruppe, begleitend macht er eine Einzeltherapie.

Sammeln und Horten als Symptom

Mein Gegenüber am Tisch ist Michael, knapp über 40 mit langjährigem Anstellungsverhältnis bei einem Pharmakonzern mit Scientology-Hintergrund. Er erzählt von Gehirnwäsche, der sie sich widersetzte, von Mobbing bis hin zur mutwilligen Zerstörung seines Computers durch Vorgesetzte. Nach der mit finanziellen Einbußen einhergehenden Kündigung und familiären Schicksalsschlägen lautete die Diagnose Burn-out, und plötzlich war Michaels Leben vom Sammeln und Horten geprägt.

Heute versucht er mit Unterstützung von Therapien wieder seinen Platz im Leben zu finden. "Messies haben oft ein starkes Bedürfnis nach Ordnung. Sie schaffen nur nicht mehr, diese herzustellen", meint er. Es braucht Energie, um die Dinge anpacken zu können, die einem längst über den Kopf gewachsen sind. Eine unbewältigbare Aufgabe für jemanden, der mitten in einer Depression oder in einem Burn-out steckt. Das ist nicht selten der Fall, denn das Messie-Syndrom besteht aus mehreren Grundkomponenten: Zwängen, Ängsten, Depressionen, Burn-out. Darüber hinaus handelt es sich um eine Suchterkrankung.

"Wie wenn ein Junkie die Nadeln heimträgt"

Der Erwerb von "Schnäppchen" sei eine Form der Selbstbelohnung, erzählt Anna, die am Kopfende des Tisches sitzt. "Es geht dabei aber nur um den Flash, denn sobald ich das Ding in meiner Wohnung habe, kann ich es sowieso nirgends abstellen oder benutzen. Das ist so, wie wenn ein Junkie die Nadeln heimträgt, von denen er draußen den Kick hatte."

Gerhard weiß, wovon Anna spricht. Er hat seine Wohnung freiwillig räumen lassen. 3.000 Euro kosteten ihn die fünf Lkw-Fahrten. "Die Erleichterung bei der Räumung war gewaltig, aber eine leere Wohnung bedeutet nicht das Ende des Messie-Syndroms." Die Zimmer füllten sich rasch wieder, denn Gerhard hortet alles, was man eventuell später einmal brauchen kann: von der Sammlung von Videobändern über Christbaumschmuck in mehreren Stilrichtungen bis zur Ausstattung für mehrere attraktive, aber bislang nicht praktizierte Sportarten.

Flucht aus der Wohnung oder Isolation

Als Gerhard davon erfuhr, dass Studenten an der Sigmund Freud Privatuniversität für Hausbesuche in Messiewohnungen zur Verfügung stehen, nutzte er sofort die Gelegenheit. "Na ja, dreckig ist es bei Ihnen nicht, aber Sie haben schon sehr viele Sachen", schildert er die erste Reaktion. "Das war für mich sehr wichtig, weil ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder jemanden in die Wohnung gelassen habe. Noch ein paar Besuche, und ich lasse ein paar Sachen raus bringen", sagt der vielseitig interessierte Mann mit großem Freundeskreis, der sich im Übrigen sehr wenig in seiner Wohnung aufhält.

Da Messies in der ständigen Angst leben, es könne jemand draufkommen, wie es in ihren vier Wänden aussieht, sind sie entweder viel unterwegs oder zu Hause oft alleine und isoliert. "Für mich war es eine große Hilfe zu erfahren, dass das, woran ich leide, für die anderen in der Gruppe ganz normal ist", erzählt Andreas von den ersten Besuchen in der Selbsthilfegruppe.

Das kann Anna bestätigen. "Am Beginn stand die Erkenntnis: 'Ich bin ein Messie.' Die zweite Erkenntnis lautete: 'Ich bin nicht schuld daran. Ich bin, wie ich bin.' Ich bemühe mich, daran zu arbeiten, aber ich verurteile mich nicht mehr selbst, wenn es nicht so gut läuft", sagt Anna und appelliert an die Geduld von Familie, Freunden, Bekannten, "aber das ist fast ein Ding der Unmöglichkeit". Andreas bekräftigt: "Das kann man nicht verlangen." Viele Betroffene hier am Tisch wurden wegen ihrer Sammelwut mindestens einmal von Partnern verlassen.

Muster des Mangels in einer Zeit des Überflusses

Sind die ständig wachsende Menge billiger Konsumgüter sowie "Shoppen" als von jungen Menschen oft genanntes Hobby Indikatoren dafür, dass unsere Gesellschaft immer mehr Messies produziert? Oder leben wir - im Gegenteil - in einer Wegwerfgesellschaft?

"Je nach Zeit sucht sich die Störung verschiedene Bilder", ist Anna überzeugt. "Heute leben wir im Zeitalter von Ein-Euro-Shops, riesigen Plakaten und Monitoren im öffentlichen Raum, auf denen überall Konsum angepriesen wird."

Andreas bringt seine Kindheit ins Spiel. In sehr bescheidenen Verhältnissen ohne eigenes Zimmer aufgewachsen, musste er Kleidung und Spielzeug der älteren Geschwister übernehmen. "Ich hatte nie etwas eigenes", erzählt er. Als Erwachsener konnte er endlich alles erwerben, was er sich immer gewünscht hatte, doch die Situation geriet außer Kontrolle. "Ich habe erkannt, dass ich das Muster des Mangels mit in die Zeit des Überflusses genommen habe", sagt er, und Muster sind nun einmal schwer zu durchbrechen.

Anna bestätigt: "Das Eltern-Ich war noch im Mangel, die nächste Generation lebt im Überfluss und ich habe null Methode, damit umgehen zu können." Alle am Tisch sind sich einig: Auch mit Unterstützung durch Therapie und Selbsthilfegruppe ist eine grundsätzliche Änderung des eigenen Verhaltens unglaublich langwierig.

Probleme überdecken

Um der Erkrankung auf den Grund gehen zu können, zieht Anna einen Vergleich von Messies und Alkoholikern: "Man halst sich mit dem unkontrollierten Sammeln oder mit dem Alkohol neben dem Problem, das man ohnehin schon hat, noch etwas Zusätzliches auf. Das Zusätzliche überdeckt dann das ursprüngliche Problem. Das macht alles noch viel schwerer." Ihr persönliches Credo zum Messie-Syndrom lautet: "Man kann etwas vom Herzen in die dingliche Welt auslagern."

Auch eine Art Perfektionismus könne dahinter stehen, betont Michael den zwanghaften Charakter der Erkrankung sowie ihre Komplexität. Die Unfähigkeit, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden oder Entscheidungen zu treffen, ist ein weiterer Aspekt.

Als kleinsten gemeinsamen Nenner sieht Anna den Umstand, nicht mit dem Leben zurechtzukommen. "Das ist die Schnittstelle, das findet im Messietum einen Ausdruck."

Den Dingen ins Auge blicken

Andreas hat die ersten Schritte zu seiner eigenen Ordnung geschafft. Er katalogisiert die Sachen, die er besitzt, in Form von Computer-Listen. Damit kann er den Dingen, die er in seinem Haus hortet, ins Auge sehen. Jeder Blick auf den Monitor bringt die Erkenntnis: "Mein Gott, davon habe ich schon so viel, das kann ich nie in meinem Leben verbrauchen." So schwindet die Lust darauf, Neues ins Haus zu bringen.

Seine zweite Strategie ist, die schönen Stücke zu verwenden, aufzutragen oder auch zu verschenken, anstatt sie zu horten. "Doch der suchende Blick ist so im Gehirn eingeprägt, das kann sich nicht von einem Tag auf den anderen ändern", meint Andreas. "Der Weg ist das Ziel. Es gibt keinen Schalter, der in der Therapie umgelegt wird, und dann bin ich geheilt." 

Hilfe statt Ausgrenzung

Ein Anliegen der ganzen Gruppe ist es, das Bild von Messies in der Öffentlichkeit zurechtzurücken. "Messies können nicht anders. Wir brauchen Hilfe und nicht Ausgrenzung."

Mittlerweile ist es 23 Uhr. Als es ans Bezahlen von Essen und Trinken geht, fragt mich mein Sitznachbar: "Brauchen Sie die Rechnung?" - "Nein ..." - "Der Kollege dort drüben sammelt nämlich die Zetterln." - "Versucht er etwa, das von der Steuer abzusetzen?" - "Nein, aber man kann auf der Rückseite noch was draufschreiben." (derStandard.at, 17.2.2012)