Michael Stavaric, geb. 1972 in Brno, ist österreichisch-tschechischer Schriftsteller und Übersetzer. Er kam 1979 nach Österreich und lebt heute in Wien. Zuletzt erschien sein Roman "Brenntage" (C. H. Beck, 2011). Stavaric wurde eben erst mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet.

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Ich frage mich schon lange, warum das Leben so ist, wie es ist, der Mensch das bleibt, was er bleibt (siehe: Weltgeschehen!), und ich mitten drin, um nichts besser, viel schlimmer noch, nur einer von vielen "Besserwissern", die wir nun mal alle sind, wo wir doch meinen, etwas erfasst/begriffen/verstanden zu haben, wir die Egoisten und Egomanen, wir, die (leider) denkenden und immerzu absichtsbezogenen Tiere; und gerne werden wir (meist von der Geschichte) eines Besseren belehrt und landen beim Glauben oder Ideologien oder Schlimmerem (schon wieder!). Alles wird besser, alles wird schon irgendwie, schau ma mal, alles wird gut! Amen! Oder auch: Was uns so sehr fehlt, sind Ironie und Milde!

Sie sehen schon, werte Leserinnen und Leser, dieser Beitrag wird ein Sammelsurium an Geschnatter, das mich beschäftigt ... zwar weiß ich durchaus, "nobler" wäre es, die Klappe zu halten und sich das Seine nur zu denken, es liegt einem Schreibenden allerdings schwer im Magen, zugegeben, die Klappe zu halten, das Leben ist ja auch kein Film.

Unterhaltsam ist der Mensch, kaum setze ich mich in die U-Bahn oder schlage ein Buch auf oder betrete einen Supermarkt oder nehme den Hörer ab (ich betätige den Knopf am Handy) oder sonst was in der Art, schon sehe ich eine Absurdität oder Anekdote auf mich einprasseln, Trommelfeuer, das macht so ein Leben paradoxerweise erträglich.

Erlauben Sie mir, Ihnen eine kleine und wahre Geschichte nahezubringen, die doch verdeutlicht, warum ich die Menschen liebe (DASS ich sie auch hasse, dessen seien Sie sich gewiss). Es handelt sich hierbei um ein überliefertes Gespräch zwischen dem einst gefürchteten Kaffeehausschachspieler, Herrn Burletzki, und dem süddeutschen Schachmeister, Herrn Köhnlein, wobei der Erstere - überaus motiviert und im Glauben an die eigenen Fähigkeiten - von einem klaren Sieg ausging.

Wie das Leben aber so spielt, es kam anders, als er dachte, denn die erste Schachpartie gewann tatsächlich Herr Köhnlein. Burletzki daraufhin: "Ich habe einen dummen Fehler gemacht." Die zweite Partie gewann ... ebenfalls Köhnlein. Burletzki: "Alle Partien kann man nicht gewinnen." Die dritte Partie gewann ... Köhnlein. Burletzki: "Ich bin heute in keiner guten Form." Die vierte Partie gewann, Sie werden es ahnen, Herr Köhnlein. Burletzki: "Er spielt nicht schlecht." Die fünfte Partie gewann Herr Köhnlein. Burletzki: "Ich habe ihn unterschätzt." Die sechste Partie gewann Köhnlein. Burletzki: "Ich glaube, er ist mir ebenbürtig." Sprach's und verließ den Spieltisch.

Oh ja, ich liebe die Menschen ... ich würde sie gewiss noch mehr lieben (und hassen), wenn sie (als Gesellschaft) etwas mehr für Literatur übrig hätten. Literatur ist längst ein Minderheitenprogramm. Und damit komme ich zu meiner eigentlichen Fragestellung oder dem, was mir am Herzen liegt ... Wer liest heutzutage noch belletristische Titel? Werke, die formal und inhaltlich anspruchsvoll, also "anstrengend" sind? Wer hat noch etwas für Poesie, experimentelle Prosa oder Romane über, die nicht dem üblichen "roten Faden" folgen, die keine Anbiederung an den Mainstream bedeuten, die etwas wagen / verrätseln / aus den Angeln heben?

Ich erinnere mich an ein Zitat von Milan Kundera, der so klug war zu behaupten, dass - ich zitiere sinngemäß - "einer, der heutzutage noch so verrückt ist, Bücher zu schreiben, dieser das doch gefälligst so tun soll, dass man den Inhalt nicht nacherzählen kann". Wenn man so will, ist dies eine Anleitung, sich der, verzeihen Sie mir den Ausdruck, "Klappentextprosa" zu entledigen. Bücher, die sich problemlos nacherzählen lassen ... ich meine, liegt es da nicht auf der Hand, dass mit denen etwas - im literarischen Sinne - nicht stimmt? Und überhaupt - warum ist die Literatur in unseren Gesellschaften so vernachlässigbar geworden? Liegt es an der heutigen Sozialisation? Am Aufkommen des Fernsehens, des Internets? Am Abbau der Mittelschicht? An dem kaum noch vorhandenen Willen der Politik, Bildung zur zentralen Vision des 21. Jahrhunderts zu machen? Wenn man so will: Gerade die Gegenwartsliteratur ist doch in unserer Gesellschaft kaum noch gegenwärtig!

Und was passiert hinter den Kulissen des Literaturbetriebs? Es gibt immer schlechter ausgebildete Buchhändler, die keine Ahnung mehr von ihrem Sortiment haben! Es gibt immer restriktivere Vertriebsmechanismen, die es kleineren Verlagen nahezu unmöglich machen, zu überleben. Es ist längst Realität, dass sich Verlage bei großen Buchketten "einmieten", dementsprechend ihre "Toptitel" stapelweise präsentieren dürfen. Es ist längst Realität, dass selbst viele der "Guten" unter den großen deutschen Verlagen leicht konsumierbare Titel in den Vordergrund stellen. Und der charismatische Verleger? Seine Zeit scheint zu Ende zu gehen - es kommen die Vertriebs-, PR- und Marketingmeister! Ist Ihnen aufgefallen, dass in Verlagen überdurchschnittlich viele Frauen arbeiten, die - kapitalistisch betrachtet - auf der Strecke bleiben? Viele Wochenstunden, geringe Entlohnung ... oder lassen Sie es mich anders ausdrücken: Idealismus vorausgesetzt. Und die Autorinnen und Autoren? Selten werden ihre Titel zu Bestsellern - der Normalfall sieht demnach so aus, dass zwei bis vier Jahre Arbeit mit 6000 bis 15.000 Euro Honorarvorschuss "entlohnt" werden. Falls überhaupt; viele wären froh, wenn sie je so weit kämen. Ist das angemessen? Verdient nicht jeder Bauarbeiter oder Fußballspieler in irgendeiner belanglosen Regionalliga deutlich mehr?

Das kulturelle Fundament

Darüber hinaus frage ich mich, ob Ihnen eigentlich klar ist, wie wichtig das literarische Übersetzen und halbwegs anspruchsvolle Kinderliteratur sind? Das literarische Übersetzen selbst wird noch desaströser entlohnt als das Bücherschreiben. Warum überhaupt literarische Übersetzungen? Mir persönlich fallen schon Antworten ein: Weil (ich beziehe mich hier auf Peter Hanenbergs Buch Europa eine Seele geben) diese Übersetzungen das kulturelle Fundament Europas sind. Weil diese Übersetzungen die Voraussetzung für ein Gespräch bilden. Weil diese Übersetzungen das Bewusstsein für eine "Differenz" ausbilden - sie sind Mittel, mit deren Hilfe wir uns Wissen und Erfahrung anderer aneignen können. Solche "Differenzen" sind immer lebensbejahend! Weil das Übersetzen an sich die intensivste Form des Lesens ist. Lernen Sie (neue) europäische Sprachen! Ja, Sie meine ich! Wie wäre es mit denen Ihrer Nachbarländer?

Da fällt mir noch ein Zitat ein, von einem hohen Bonner Ministerialbeamten zu einem seiner Mitarbeiter: "SCHREIBEN Sie diesen deutschen Text ins Französische ab!" Es ging keinesfalls um Literatur, doch die sich darin manifestierende Ignoranz, wie essenziell Übersetzungen in und aus andere/n Sprachen sind, erschreckt mich nach wie vor. Und was die Kinderliteratur anlangt? Ich behaupte, dass sie die "vergessene Königsklasse" der Literatur ist. In Zeiten von Leseschwäche und Pisa-Studien sollte der Wert von ambitionierten Kinderbüchern außer Frage stehen. Meines Erachtens kann man Kinder schon früh an komplexe Themen wie Sprachenvielfalt, Tod, Beziehung, Umwelt, Demokratie etc. heranführen. Ob nun Kinder, die mit Büchern von Wolf Erlbruch, Linda Wolfsgruber und Co aufwachsen, später vermehrt zu belletristischen Titeln greifen, würde mich brennend interessieren - ich kann es mir vorstellen.

Aber genug davon ... um aus Ihnen einen "besseren" Menschen zu machen (so weit das noch möglich ist), empfehle ich die Lektüre folgender Werke: 1. Hans Lebert: Die Wolfshaut und Der Feuerkreis; 2. Bohumil Hrabal: Allzu laute Einsamkeit; 3. Les Murray: Fredy Neptune; 4. Anne Carson: Rot; 5. Karel Èapek: Das Absolutum oder die Gottesfabrik und Der Krieg mit den Molchen; 6. Joseph Conrad: Herz der Finsternis; 7. Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki; 8. Per Olof Enquist: Der gestürzte Engel; 9. Vladimir Holan: Nacht mit Hamlet; 10. Kevin Vennemann: Nahe Jedenew; 11. Christina Friedrich: Morgen muss ich fort von hier und 12. Patrik Ourednik: Europeana (die fremdsprachigen Titel sind alle hervorragend übersetzt).

Und falls Sie im Jahr 2012 ein Buch pro Monat lesen, dann schaffen Sie das Pensum halbwegs! Sie bleiben natürlich ein ganz normaler Besserwisser, Ihr Leben wird allerdings dadurch nicht schlechter werden, versprochen. Oder um es mit den bemerkenswert poetischen Worten eines kanadischen Eishockeyspielers zu sagen: "Es gab Zeiten, da habe ich den Schläger so fest gedrückt, dass Ahornsirup daraus hervorquoll." Ich versichere Ihnen, so gut sind diese Bücher! Und die Zeit, sie zu lesen, sollten Sie sich nehmen. Sei es auch nur, um mich davon zu überzeugen, dass die Welt gar nicht so schlecht ist, wie ICH meine.

Wer hat noch etwas für Poesie oder Romane über, die keine Anbiederung an den Mainstream bedeuten, die etwas wagen / verrätseln / aus den Angeln heben? (Michael Stavarič, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 28./29. Jänner 2012)