"Meine Phantasie ist zu allem fähig." Das ist einer der Signalsätze des Romanciers Ernst Augustin. Im Herbst dieses Jahres wird er seinen 85. Geburtstag feiern. Und noch immer ist er einer der unterschätztesten deutschsprachigen Erzähler der Gegenwart.

1966 auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton gefeiert für ein Romanmanuskript - 1970 erschien Mamma -, dauerte sein Ruhm nur ein paar Stunden. Bis ein blutjunger Kärntner zu einer Autoren- und Kritikerbeschimpfung anhub, die alles andere vergessen ließ. Dieser Nachwuchsautor namens Peter Handke ist dann, wie auch Augustin, vom Suhrkamp Verlag unter Vertrag genommen worden. Heute könnte man sich kaum zwei poetologisch gegensätzlichere Autoren vorstellen als Augustin und Handke.

Denn Augustins Fantasie ist, weil schrankenlos überbordend, zu allem fähig. Das stellt er mit seinem jüngsten und mutmaßlich letzten Prosawerk, was die autopoetische Schlussvolte verrät, nachdrücklich unter Beweis. "In einer früheren, ferneren Vision dieser Geschichte", so setzt Augustin ein, "sagt Daniel Defoe, er habe eines der unglaublichsten und abenteuerlichsten Leben gelebt. Ich sage: Ich auch."

Was dann folgt, ist eine Hommage an das Abenteuer des Lebens und das Abenteuer des Erzählens, das eben auch immer das Abenteuer des Lesens enthält. So erfindet beispielsweise der Ich-Erzähler (hinter dem Augustin selber hervorlugt) als Bub in einem Dorfbach den Caisson, ein Tauchgerät, mit dem er, da sich in dem umgebauten Ofen eine große Luftblase bildet, lange abtauchen kann, um unter Wasser zu lesen.

Es ist aber auch eine Verfolgungsgeschichte, dem Ich-Erzähler auf den Fersen sind rätselhafte Figuren; mit diesem Motiv erweist Augustin der Literarhistorie seine Reverenz wie auch den Detektivromanen eines Dashiell Hammett. Und den kulturellen Exotismen eines Gegenwarts-Robinsons, der im Internetzeitalter realisiert, dass im Netz Identitäten flüchtige Fiktionen sind und der Austausch rasch in Projektion, also in einen Roman, abbiegt. Zudem flicht Augustin fantastische Architekturkonstruktionen und detaillierte märchenhaft-absurde Wohnkammern ein, von denen mehrere idente über die ganze Welt verteilt sind.

Ernst Augustin ist ein Erzähler mit einem ganzen Arsenal an fliegenden Teppichen. Diesem Arzt, der 1958 aus der DDR floh, drei Jahre in Afghanistan lebte und sich 1962 als psychiatrischer Gutachter in Bayerns Landeshauptstadt niederließ, der immer wieder Weltreisen unternahm und Wohnsitze in London und New Orleans hatte, ist die Autobiografie stets nur das Trampolin gewesen für seine Bücher.

Er gehört zur Spezies der auftürmenden Kolossalbaumeister der Literatur, das belegt auch nachdrücklich sein eigenes Wohnhaus nahe des Schlosses Nymphenburg in München. Der Leserschaft ist das Gebäude aus Ernst Augustins Roman Raumlicht: Der Fall Eve-lyne B., 1976 erschienen und 2004 wie alle seine Bände im Beck-Verlag neu aufgelegt, bekannt: keine drei Meter breit, dafür mehr als 20 Meter tief, und im Inneren nicht nur von seiner Frau Inge mit Trompe-l'OEil-Bildern farbenfroh ausgemalt, sondern auch derart verschachtelt, dass schon mancher Gast bei all den Haupt-, Halb-, Zwischen- und versteckten Geschossen und Räumen die Orientierung verlor, mit einem Palmendachgarten und einem von ihm eigenhändig eingebauten, voll verspiegelten Discosaal mit großer Lichtorgel im Tiefgeschoß, das sich auf Nachfrage als Parterre entpuppt.

Doch als was entpuppt sich am Anfang, auf halber Prosatreppe und im Finale Robinsons blaues Haus? Ein Roman mit dramaturgisch schlichtem Zuschnitt, mit einem zwischen Punkt A und Punkt Z zielgerichtet abgewickelten Erzählgarn, ist es nicht.

Es ähnelt in seinem Spiel mit Augustin'schen Motiven, Bildern, Strängen, Vorlieben und Verweisen, mit eigenen Erinnerungen und autobiografischen Folien vielmehr verblüffend einem anderen letzten Buch, Friedrich Dürrenmatts Durcheinandertal. Ist es doch ein ebenso sprunghaftes Durcheinandertal: eine Eloge auf die verspielte Rösselsprungkraft des Fabulierens mit dem Affen Erinnerung auf der Schulter. Mit breitem Fiktionspinsel zieht Augustin dicke phantasmagorische Bahnen auf eine Leinwand, die keinen Rahmen besitzt, und sorgt zugleich als Ruinenbaumeister seiner selbst fürs sorgsame Ausmalen hyperrealistischer Details.

Nicht nur hierzulande fällt es schwer, andere Autoren zu benennen, die ein ähnlich zirzensisches Spiel, unangestrengt, für sich, lustvoll versonnen, betreiben, vielleicht am nächsten käme dem der heute fahrlässig vergessene Wiener Peter Marginter. Ist das alles selbstverliebt, eine blaue Papierpusteblume ichbezogener Surrealromantik?

Nein. Denn am Ende präsentiert Augustin als allerletzte Finte seines gesamten großen Werkes - die Selbstauslöschung, den Tod. Der bei ihm daherkommt als freundlicher, kleiner, gut gekleideter Herr, der sich, wo immer er auftaucht, als überaus zuvorkommend erweist. Und der Robinsons blaues Haus absperrt. Das Ende des Erzählers ist das Ende des Romans. Selbst dazu ist Ernst Augustins Fantasie fähig. (Alexander Kluy, DER STANDARD - Printausgabe, 28./29. Jänner 2012)